Nach jahrelangem Verstoß gegen Grundrechte soll die generelle Speicherung von Internet- und Telefondaten enden. Doch Justizministerin Sam Tanson plant umfangreiche Ausnahmen. Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit ist nicht gegeben. Ein Kommentar.
Die Geschichte der Vorratsdatenspeicherung in Luxemburg ist gleichzeitig eine des Scheiterns grüner Justizminister. Vor knapp neun Jahren stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) klar: Die anlasslose Speicherung von Verbindungs- und Standortdaten verstößt gegen europäische Grundrechte. Der damalige Minister Felix Braz erwartete eine Lösung auf EU-Niveau. Noch im Koalitionsprogramm von 2018 findet sich diese Hoffnung wieder. Es blieb allerdings Wunschdenken, dass Brüssel es regelt und die Regierung – und vor allem Déi Gréng – damit aus der Schusslinie nimmt.
Justizministerin Sam Tanson bleibt dem Kurs ihres Vorgängers Felix Braz treu. Im Dossier der Überwachung von Internet und Handys will sie die Verantwortung auf andere abschieben. Es fehlt ihre politische Vision, wie das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit gestaltet werden soll. Die Folge: Blau-Rot-Grün hat erneut einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Bedürfnisse der Justiz und des Geheimdienstes vor die Grundrechte der Bürger stellt.
Mit dem Wissen von heute hätte sie vermutlich früher gehandelt, meinte Sam Tanson vergangene Woche bei der Vorstellung des Textes, den sie eigentlich vermeiden wollte. Der Entwurf ihres Vorgängers von 2015 versandete, weil neue Urteile des EuGH ihn hinfällig machten. Jetzt will die Ministerin die generelle Speicherung beenden. Doch viel diskutierte Probleme bleiben bestehen. Und der aktuelle Entwurf schafft neue Gefahren für die Grundrechte.
Alles, was geht
Zwei bis drei Jahre würden ihre Beamten schon an dem Entwurf arbeiten, betonte die Ministerin. Die Dauer erkläre sich durch die vielfältigen Abwägungen mit den Akteuren. Das Ziel sei ein Ausgleich zwischen Sicherheit und Freiheit. Doch die Methode ist problematisch.
Wer also nicht komplett abgeschieden lebt, wird dennoch regelmäßig unter die Überwachung fallen.“
Die Begründung des Entwurfs – die Reporter.lu vorliegt – ist eine Analyse der Urteile des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung. Die europäischen Richter definierten im Laufe der Jahre, was nicht geht (generelle Speicherung) und was gehen könnte (gezielte Speicherung). Der Trugschluss, den Sam Tanson daraus zieht: Jede Speicherung, die nicht unmittelbar gegen Grundrechte verstößt, will sie in Luxemburg einführen. Dabei ist die Liste des EuGH eine Kann- und keine Muss-Liste.
Die Liste der Maßnahmen ist lang. Wer mit welcher IP-Adresse welche Internetdienste nutzte, wird ohne Ausnahme für sechs Monate gespeichert. An Risiko-Orten wie etwa dem Flughafen sollen weiterhin Standort- und Verbindungsdaten gespeichert werden. Im Verdachtsfall können Internet- und Telefondaten im Kontext der Tat „eingefroren“ werden („Quick Freeze“), um zu verhindern, dass die Daten während der Ermittlungen gelöscht werden. Und es gibt eine generelle Ausnahme im Fall einer ernsthaften Bedrohung für die nationale Sicherheit.
Notwendigkeit nicht bewiesen
Ist dieses Arsenal für Luxemburg verhältnismäßig? Brauchen Justiz und der „Service de renseignement de l’Etat“ (SRE) die Instrumente in diesem Umfang? Reicht das „Quick Freeze“ nicht als Maßnahme, wie etwa die Grünen und die FDP in Deutschland es fordern? Ist es notwendig, im Falle einer Bedrohung der nationalen Sicherheit für sechs Monate alles zu speichern? Muss dieser Zeitraum beliebig verlängert werden können?
Das Justizministerium liefert keine Analyse dazu. Dabei ist die wesentliche Forderung des EuGH klar: Die Überwachung der Bürger muss auf das strikte Minimum begrenzt sein. In zwei knappen Absätzen umreißt der Entwurf auch die Ziele. Bei Gewaltverbrechen sei es wichtig, zu wissen, wer am Tatort war. Bei Entführungen könnten Opfer über die Standortdaten gefunden werden. Im Falle organisierter Kriminalität sei es notwendig, herauszufinden, wer zur Gruppe gehört und wo sie sich treffen. In der Geheimdienstarbeit erlauben die Vorratsdaten die Aufdeckung von Terrornetzwerken.
Wie oft nutzen die Behörden dieses Instrument? Darauf liefert das Justizministerium keine Antwort. Diese muss man sich im Jahresbericht der Datenschutzbehörde CNPD heraussuchen: 2.500 Anfragen zu Vorratsdaten erhielten die Telekom- und Internetanbieter 2021 von den Behörden. Oft werden dabei Hunderte Anfragen pro Fall beantragt. Dennoch nutzen die Behörden dieses Instrument deutlich weniger als noch vor wenigen Jahren, als die Zahl der Anträge bei über 4.000 pro Jahr lag. 2013 lieferte Luxemburg der EU-Kommission detaillierte Fallbeschreibungen, in denen die Justiz Vorratsdaten nutzte. Eine aktuelle Analyse gibt es aber offenbar nicht.
Kritik wird ignoriert
Sam Tanson begründet die Vorratsdatenspeicherung wahlweise mit dem Kampf gegen Terrorismus, Kinderpornografie oder organisiertes Verbrechen. Doch die tatsächliche Nutzung umfasst jede Art von Kleinkriminalität. Denn die Justiz hat Zugriff auf die Überwachungsdaten, wenn die Höchststrafe für die Tat ein Jahr Gefängnis oder mehr beträgt. Als das Parlament im Jahre 2010 über die Maßnahme diskutierte, kritisierte der damalige Oppositionspolitiker Xavier Bettel (DP), dass 472 Straftaten darunter fielen – von der Vergiftung von Tieren bis zur Beleidigung von Abgeordneten.

Deshalb wollte Felix Braz als Justizminister eine Liste von 33 Straftaten in das Gesetz aufnehmen. Das löste jedoch eine Debatte aus, was im Gesetz stehen sollte und was nicht. Selbst innerhalb der Justiz gab es sehr unterschiedliche Auffassungen, wie die damalige Stellungnahme zeigt. Ist ein Diebstahl eine schwere Straftat? Doch Sam Tanson erwähnt diese Debatte nicht einmal. Klar ist, dass für die Regierung mit ihrer Wende in der Sicherheitspolitik 2021 die Drogenkriminalität nun eine besondere Priorität ist. Und dafür scheinen alle Mittel recht.
Die Anwaltskammer forderte 2015, dass Personen von der Vorratsdatenspeicherung ausgenommen werden, deren Berufsgeheimnis gesetzlich besonders geschützt ist. Der EuGH hatte dies 2014 ebenfalls als Bedingung genannt. Das Justizministerium übergeht die Forderung allerdings. Auch der Quellenschutz der Journalisten findet keine Erwähnung.
Obskures Gremium entscheidet
Die Frage stellt sich auch nicht nur theoretisch. Denn der Entwurf sieht weiterhin eine generelle Speicherung an Orten vor, wo entweder viele Menschen sind oder die Kriminalitätsrate höher ist. Sam Tanson erwähnte den Bahnhof in der Hauptstadt als Beispiel. Ein Fall veranschaulicht die Tragweite dieser „Ausnahme“: Im Bahnhofsviertel sind traditionell besonders viele Redaktionen angesiedelt. Es sind die Wochenzeitungen „woxx“ und „Lëtzebuerger Land“, das Onlinemagazin „Lëtzebuerger Journal“ und neuerdings wieder das „Luxemburger Wort“. Jeder, der die Journalisten kontaktiert, per Anruf, Nachricht oder E-Mail, würde demnach gespeichert – auch wenn der Inhalt nicht darunter fällt.
Die Justizministerin nimmt sich dabei aus der Verantwortung. Eine nicht definierte „Commission consultative“ soll die geografischen Zonen festlegen, in denen die Vorratsdatenspeicherung gilt. Das soll allerdings erst drei Monate passieren, nachdem das Parlament das Gesetz angenommen hat. Die Abgeordneten werden also die Katze im Sack kaufen müssen. Der Entwurf enthält eine sehr breite Definition von möglichen Orten: wo viele Menschen sind, wo große Events stattfinden, wo viele Verbrechen passieren und wo sie passieren könnten. Sam Tanson bemerkte beiläufig, dass die Definition schwierig sei, denn Luxemburg sei ja nicht so groß.
Klar ist: Wer also nicht komplett abgeschieden lebt, wird dennoch regelmäßig unter die Überwachung fallen. Was als gezielte Speicherung verkauft wird, betrifft letztlich eine Mehrheit. Immerhin soll die beratende Kommission dem Parlament alle drei Jahre einen Evaluierungsbericht vorlegen.
Erschüttertes Vertrauen
Sam Tanson hat einen Entwurf vorgelegt, der keine politische Gestaltung enthält, sondern einem in Gesetzform gegossenen Forderungskatalog der Sicherheitsbehörden entspricht. Vergessen scheint, dass Blau-Rot-Grün mit dem Versprechen gewählt wurde, den Geheimdienst unter Kontrolle zu bekommen. Vergessen scheint auch, dass mit dem Datenbankenskandal 2018 ans Licht kam, wie lasch Polizei und Justiz mit sensiblen Daten umgingen und Gesetze jahrelang nicht umsetzten.
Es wäre der Job der Justizministerin, dieses erschütterte Vertrauen wiederherzustellen. Dafür zu sorgen, dass die Behörden ihre Arbeit machen können, ohne dass die Sicherheit die Freiheit erstickt. Stattdessen lobt sich Sam Tanson selbst dafür, die anlasslose Vorratsdatenspeicherung zu beenden. Einen grundrechtswidrigen Zustand zu beheben ist keine Leistung, sondern das absolute Minimum, das Bürger von ihrer Regierung erwarten.
2010 kritisierten Déi Gréng die Einführung der Vorratsdatenspeicherung scharf. Heute führen sie sie weiter.


