In Luxemburg stehen erstmals mutmaßliche islamistische Terroristen vor Gericht. Der Fall zeigt, wie zwei junge Menschen sich immer stärker radikalisieren und warum sie für die Justiz als Täter gelten – auch wenn sie selbst nicht zur terroristischen Tat schritten.

„Es ist nicht so, dass man beim IS eine Mitgliedskarte beantragt und dann gehört man dazu“, erklärte ein Kriminalbeamter vor Gericht. Es ist ein Satz, der die Kernfrage in Luxemburgs erstem Anti-Terror-Prozess treffend umschreibt. Sind die Angeklagten, die Propaganda vom „Islamischen Staat“ (IS) verbreiteten, dadurch schon Mitglieder dieser Organisation – und damit Terroristen?

An den vier Verhandlungstagen Ende 2021 im großen Saal des Bezirksgerichts Luxemburg geht es aber auch um die Frage, wie es so weit kommen konnte. Wie und warum haben sich die Beschuldigten radikalisiert? Wie weit waren sie davon entfernt, selbst zu Attentätern zu werden?

Luxemburg im Visier des FBI

Sprengstoff oder Waffen werden am 19. Juni 2018 nicht gefunden, als die Spezialeinheit der Polizei eine Wohnung in Kirchberg stürmt und die späteren Beschuldigten in diesem Anti-Terror-Prozess festnimmt. Dafür wird jede Menge IS-Propagandamaterial sichergestellt, der Großteil in digitaler Form: PDFs, Fotos und Videos. Dem Zugriff voraus gehen 14 Monate Ermittlungen. Die US-Strafverfolgungsbehörde FBI hatte die Luxemburger Polizei Mitte 2017 auf den damals 26-jährigen Kevin M. aufmerksam gemacht.

Es gibt beim Terrorismus nicht nur jene, die bewaffnet in den Kampf ziehen. »David Lentz, stellvertretender Staatsanwalt

Der Luxemburger mit thailändisch-spanischen Wurzeln ist durch seine Aktivitäten auf Facebook aufgefallen. Dort bringt er in großem Umfang IS-Propaganda unter die Leute. Dafür hatte er unter Alias-Namen wie „Ali“, „Abou Roumaysa“ oder „Abou Safiya“ mehrere Seiten eingerichtet. Sie tragen Bezeichnungen wie „Connais la Vérité et tu Connaitras ses Adeptes“, „La science avant la parole et l’acte“ oder „Talaboulim“. In ähnlich betitelten Kanälen ist er beim Messenger-Dienst „Telegram“ aktiv. Auf diesen Plattformen sowie auch via Twitter, Skype, E-Mail oder ganz allgemein im Internet sucht Kevin M. gezielt nach Informationen vom IS, verbreitet sie weiter und äußert seine eigenen, immer radikaleren Ansichten dazu.

Seine Intentionen, so die Erklärungen vor Gericht, seien dabei rein religiöser Natur gewesen. Er habe Antworten gesucht, wie er den Islam zu leben habe. Dabei sei er auf IS-Material gestoßen und habe sich für dessen Auslegung des Islam interessiert. Dazu habe er auch bekannte IS-Persönlichkeiten im Ausland angeschrieben, gibt der Angeklagte vor Gericht zu.

Ein Lebensweg in der Sackgasse

Kevin M. möchte ein „Savant“, ein Weiser sein. Etwas darstellen, was er auf schulischem oder beruflichem Weg nicht geschafft hat. Von der Mutter früh verlassen, wächst er beim Vater auf, schwänzt die Schule, ist auffällig und aggressiv, landet im „Centre hospitalier neuro-psychiatrique“ sowie im Jugendstrafvollzug in Dreiborn. Dort kommt er durch einen Erzieher mit Kampfsport in Kontakt, doch eine Verletzung durchkreuzt seine Pläne, ein « Mixed Martial Arts-Champion » zu werden, so seine Schilderung vor Gericht.

Der Erzieher bringt ihm aber auch den Islam nahe. Kevin M. konvertiert 2009, findet keine Arbeit, dafür aber Gleichgesinnte. Die psychologischen und psychiatrischen Gutachter vor Gericht attestieren ihm einen leicht unterdurchschnittlichen IQ, Minderwertigkeitskomplexe sowie narzisstische Tendenzen. Er suche Anerkennung, Anschluss, Struktur, ist dadurch laut Auffassung der Experten leicht beeinflussbar und damit empfänglich für extremistische Ideologien.

Wie leidenschaftlich Kevin M. sich einer Sache widmen kann, wird im Prozess deutlich. Aufgrund von gesundheitlichen Problemen erscheint er im Rollstuhl vor Gericht. Dort antwortet er stotternd und leise auf die Fragen des vorsitzenden Richters. Wenn es aber um seine Sicht zum Islam geht, redet er sich regelrecht in Rage, die Kurzatmigkeit und andere Gebrechen scheinen verschwunden.

Die terroristischen Aktionen des IS habe er nie gutgeheißen, betont der 30-Jährige. Ähnlich äußert sich vor Gericht die Mitangeklagte Alysson A. (26), französische Staatsbürgerin, Ehefrau von Kevin M. und Mutter des gemeinsamen dreijährigen Sohnes. Infolgedessen beantragt der Anwalt des Paares denn auch einen Freispruch von den schweren Vorwürfen.

Zwischen Propaganda und Anstiftung

Die Staatsanwaltschaft sieht das anders: Das Paar habe im Internet gezielt nach IS-Propaganda gesucht, habe auf diversen Kanälen andere Personen davon überzeugen wollen, dass allein der IS auf dem rechten Weg sei und man sich ihm anschließen solle. Dazu hätten die beiden, in typischer IS-Manier, Zitate aus dem Koran aus ihrem Kontext gerissen, um die Taten der Miliz zu rechtfertigen. Ihre „Follower“ hätten sie zu ähnlichen Taten, auch in Europa, aufgefordert: etwa das Anzünden von Wahllokalen in Frankreich oder die Tötung eines andersgläubigen Nachbarn.

In der Tat geht es in den fast 12.000 Botschaften vorrangig um die « falsche » Lebensweise » von « Ungläubigen », für welche diese zu bestrafen seien, auch mit dem Tod. Die Verbreitung dieser Botschaften geschieht über einen Zeitraum von Jahren, sodass die Anklageschrift des stellvertretenden Staatsanwalts David Lentz, die alle strafrechtlich relevanten „Posts“ des Paares anführt, am Ende mehr als 40 Seiten umfasst.

Luxemburgs Anti-Terror-Gesetz

Das Strafgesetzbuch stuft unter Artikel 135-1 als terroristischen Akt jedes Delikt oder Verbrechen ein, das einem Land Schaden zufügt mit dem vorsätzlichen Ziel, die Bevölkerung einzuschüchtern, eine Regierung zum Handeln oder Nicht-Handeln zu bewegen oder die Grundstrukturen eines Landes zu destabilisieren oder zu zerstören.

Der gegen die Beschuldigten vorgebrachte Artikel 135-4, legt zudem fest, dass jeder, der durch die Übermittlung von Informationen, von Material oder Finanzierungsmitteln, freiwillig und wissentlich die kriminellen Aktivitäten einer terroristischen Gruppierung unterstützt, als Mitglied dieser Organisation anzusehen ist – auch wenn er nicht die Absicht hatte, im Rahmen dieser Vereinigung eine Straftat zu begehen oder sich als Komplize daran zu beteiligen.

Der ebenfalls den Angeklagten zur Last gelegte Artikel 135-11 besagt derweil, dass auch die Verbreitung von Botschaften, die Drittpersonen zu terroristischen Taten anstiften, als Akt von Terrorismus einzustufen ist. Der dritte Anklagepunkt basiert auf Artikel 135-12 und betrifft die Rekrutierung anderer Personen für terroristische Aktionen.

Was gilt laut Gesetz als « terroristische Organisation »? Der « Islamische Staat » wird sowohl von den Vereinten Nationen als auch von der Europäischen Union auf ihren Sanktionslisten als solche geführt. Das Luxemburger Gesetz (Artikel 135-3) definiert darüber hinaus als terroristische Organisation jede Gruppierung von mindestens zwei Personen, die einen oder mehrere terroristische Akte durchführen.

Die Anklage in diesem Fall basiert neben jenem zum Aufruf zum Hass auf drei Artikeln von Kapitel III-1 („Du terrorisme“) des Strafgesetzbuchs. Es sind Artikel, die damit zum ersten Mal Grundlage eines Luxemburger Gerichtsverfahrens sind. Die Gesetzgebung hat ihren Ursprung in der Zeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001, trat 2003 in Kraft und wurde in den Folgejahren immer wieder angepasst.

Die unterschätzte Waffe der Propaganda

« Es gibt beim Terrorismus nicht nur jene, die bewaffnet in den Kampf ziehen“, sagt David Lentz im Gespräch mit Reporter.lu. „Diejenigen, die diese dazu verleiten, genau das zu tun, die psychologische Bearbeitung im Vorfeld, ist in meinen Augen gleichwertig, wenn nicht sogar noch wichtiger“, so der „Procureur d’Etat adjoint“ des Gerichtsbezirks Luxemburg, der landesweit für den Anti-Terror-Bereich zuständig ist. „Propaganda ist eine Waffe, die sehr unterschätzt wird“, betont der Vertreter der Staatsanwaltschaft.

Wie weit die Radikalisierung bei Kevin M. fortgeschritten war, davon zeugen mehrere Aussagen, die die Ermittler im Umfeld des Beschuldigten aufnahmen. Seine eigenen Onkel etwa sagten aus, Kevin M. sei zu einem gewissen Moment so radikal gewesen, dass sie ihm zugetraut hätten, zum IS nach Syrien zu gehen, hätte ihm seine gebrechliche Gesundheit dies ermöglicht. Es ist eine Hypothese, die auch die Staatsanwaltschaft nicht ausschließt. Konkrete Hinweise auf Pläne für eine Tat in Luxemburg gab es jedoch keine.

Terrorismus beginne nicht erst bei der terroristischen Tat, argumentierte die Staatsanwaltschaft bei Luxemburgs erstem Anti-Terror-Prozess. (Foto: Mike Zenari)

Mit einer Reise nach Syrien hätte Kevin M. es anderen jungen Männern gleichgetan, mit denen er den Ermittlungen zufolge zeitweise in engem Kontakt stand: Saïd Amrani und Steve Duarte. Die beiden zählen die Ermittlungsbehörden zu insgesamt sechs Dschihadisten, die von Luxemburg aus in den „Heiligen Krieg“ zogen. Zwei dieser sechs fielen im Kampf, Saïd Amrani (2013) ist einer davon. Steve Duarte, der wohl medial bekannteste, ist letzten Erkenntnissen zufolge am Leben und befindet sich in einem Strafgefangenenlager in Syrien. Die drei anderen kehrten nach Luxemburg zurück.

Diese Informationen sind den Aussagen der Ermittler vor Gericht im Fall Kevin M. zu entnehmen sowie der Urteilsbegründung, die Reporter.lu vorliegt. Ansonsten vermeiden es Justiz und Polizei, allzu viel über ihre Ermittlungsarbeit und vergleichbare Entwicklungen preiszugeben. Im Gespräch mit Reporter.lu möchte auch Staatsanwalt David Lentz keine konkreten Zahlen nennen, wie viele Verfahren über die Jahre im Anti-Terror-Bereich eingeleitet wurden. Nur so viel: Es seien nicht „ein, zwei oder drei“, sondern schon einige mehr.

Mit Kevin M. und Alysson A. wurde nun erstmals ein Fall vor Gericht verhandelt. Laut David Lentz seien aber noch andere „in der Pipeline“. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft betont auch, dass die Justiz nicht nur mit Islamismus zu tun habe, sondern mit allen möglichen extremistischen Strömungen, seien sie religiös oder politisch motiviert.

Ständiger Austausch mit dem Ausland

Auch wie mit den islamistischen Rückkehrern verfahren wird, will die Justiz nicht kommentieren. David Lentz versichert jedoch allgemein, dass die Gefahrenlage regelmäßig bewertet werde. Dies könne er in Bezug auf jene Personen sagen, gegen die juristische Verfahren eingeleitet wurden. Wie mit anderen Personen, etwa den Frauen, mit denen Luxemburger Dschihadisten fernab der Heimat eine Familie gründeten, verfahren wird, das sei eine politische Entscheidung, mit der man sich auch im Ausland schwertue.

Der Austausch mit dem Ausland ist ein Schlüsselelement im Kampf gegen den Terrorismus, seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde er auch in Luxemburg intensiviert. Auch im Fall Kevin M. kam der entscheidende Hinweis vom FBI. David Lentz steht in ständigem Kontakt mit seinen Kollegen aus den Nachbarländern und darüber hinaus. Regelmäßiger Austausch herrscht auch mit der hiesigen Anti-Terror-Einheit der Kriminalpolizei, dem Luxemburger Geheimdienst und dem « Haut-Commissariat à la protection nationale ».

Dabei geht es um eine beständige Einschätzung der allgemeinen Terrorgefahr, weltweit, aber vor allem in Europa. In den europäischen Ländern kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu terroristischen Anschlägen. Etwa durch organisierte Gruppen mit Sprengstoff und Schusswaffen wie 2015 in Paris oder 2016 in Brüssel, durch Einzeltäter mit Fahrzeugen wie 2016 auf dem Berliner Weihnachtsmarkt und in Nizza sowie 2017 in Barcelona oder durch Messerattacken. Die Gefahr, die von dschihadistischem Terrorismus ausgeht, ist weiter vorhanden. Laut der europäischen Polizeibehörde Europol gab es im Jahr 2020 in der EU 57 Terroranschläge, ausgeführte wie vereitelte. 2019 waren es 55.

Terrorgefahr nicht akut, aber vorhanden

Im Vergleich zu 2014 und 2016, als der IS im Irak und in Syrien militärische Erfolge verzeichnen konnte, sei es in den vergangenen Jahren aber sehr viel ruhiger geworden, erklärt David Lentz. In bestimmten Milieus sei die radikale Ideologie aber noch immer tief verwurzelt. « Jene, die von dieser Idee überzeugt sind, bleiben ihr treu, auch wenn sie sich derzeit vielleicht diskreter verhalten », meint der Vertreter der Staatsanwaltschaft.

Wir gehen zu den Familien, klopfen an die Tür und fragen, was die betreffende Person mit ihren Aussagen gemeint hat. »David Lentz, stellvertretender Staatsanwalt

Bei Attentaten im Ausland stellten die Ermittler denn auch wiederholt fest, wie anziehend solche Vorfälle auf junge Menschen wirken können; wie sie sie in den sozialen Medien kommentieren und verbreiten. In solchen Fällen früh einzuschreiten, ist denn auch eines der Ziele der Luxemburger Justiz. Es gehe nicht darum, jemandem den Prozess zu machen, betont David Lentz. Vielmehr wolle man eine Radikalisierung schnellst möglich unterbinden.

In vielen Fällen würden die Ermittler daher einfach direkt auf Verdächtige zugehen. „Wir gehen zu den Familien, klopfen an die Tür und fragen, was die betreffende Person mit ihren Aussagen gemeint hat“, so David Lentz. Bei vielen reiche das schon für ein Umdenken oder sie würden einlenken und ein Programm zur « Deradikalisierung » wahrnehmen. Vor allem Minderjährige könne man so oft davor bewahren, einen falschen Weg einzuschlagen, sagt David Lentz, der bei der Staatsanwaltschaft Luxemburg auch für den Bereich Jugendschutz zuständig ist.

Bemühungen zur « Deradikalisierung »

Auch Kevin M. hat einen kleinen Sohn. Vor Gericht sagte der 30-Jährige, er möchte sich mit seiner Familie ein neues Leben aufbauen. Er wolle online Arabisch- und Religionskurse anbieten. In Luxemburg fühle er sich aber nicht mehr wohl. Er sieht sich als Opfer eines Komplotts. Als Opfer der Polizei, die seine „Posts“ aus dem Kontext gerissen habe. Zugleich sagt er, er bereue sein Handeln, er wisse nun, dass es falsch gewesen sei.

Das Gericht hat jedoch Zweifel an seiner Einsicht und folgt zu großen Teilen der Argumentation der Anklage, wie aus der Urteilsbegründung hervorgeht. Am 16. Dezember 2021 verurteilt es Kevin M. zu einer Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren, davon 18 Monate auf Bewährung. Gegen seine Frau Alysson A. werden zwei Jahre Haft verhängt, davon zwölf Monate auf Bewährung. Damit bleiben die Richter unter der Forderung der Anklage, die viereinhalb beziehungsweise drei Jahre Gefängnis beantragt hatte. Die mögliche Maximalstrafe hätte bei acht Jahren Haft gelegen.

Die Richter halten in ihrem Urteil fest, dass die Maßnahmen zur Deradikalisierung, die Kevin M., aufgetragen wurden, als er aus der Untersuchungshaft in die Freiheit unter „Contrôle judiciaire“ entlassen wurde, keine Früchte getragen hätten. Deswegen könne ein Großteil der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden. Im Umkehrschluss legen sie beiden Beschuldigten ein weiteres entsprechendes Programm bei „Respect.lu“ als Bedingung für die Teilbewährung auf. Das Zentrum für Deradikalisierung begleitet Betroffene auf psychologischer, therapeutischer und sozialer Ebene und bietet Maßnahmen wie Anti-Gewalt-Training oder Konflikt- und Krisenbewältigung an.

Auch während ihres Prozesses wurden Kevin M. und Alysson A. von Mitarbeitern von « Respect.lu » begleitet. Das werden diese wohl auch ein weiteres Mal tun. Sowohl Kevin M. als auch Alysson A. haben nämlich Einspruch gegen das Urteil aus erster Instanz eingelegt. Wann ihr Berufungsverfahren stattfindet, ist noch nicht entschieden.


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