Neue wissenschaftliche Modellrechnungen zeigen: Luxemburgs Herdenimmunität könnte bereits schneller erreicht werden als angenommen – und schneller als in anderen Staaten. Dazu müsste die bisher schleppend angelaufene Impfkampagne aber bald richtig in Fahrt kommen.
Freunde treffen, im Restaurant essen oder gemeinsam feiern: Die Hoffnungen, die in Corona-Impfstoffe gesetzt werden, sind groß. Nach zehn Monaten andauernder Pandemie soll die Immunisierung per Injektion wieder ein normales Leben ermöglichen.
Wann genau wird dieses Ziel erreicht? Zu dieser entscheidenden Frage liefert ein Forscherteam der Universität Luxemburg neue Erkenntnisse. Das Fazit der kürzlich als Vorab-Publikation veröffentlichten Studie über « Wege zur Herdenimmunität per Impfung », lässt aufhorchen. Demnach werden weniger als 3.000 Impfungen pro Tag benötigt, um die Herdenimmunität, also die Immunisierung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, innerhalb von drei Monaten zu erreichen.
Allerdings müssten sich dafür mehrere Annahmen der Studie bewahrheiten. Täglich müsste exakt 2.700 Menschen bzw. etwa 0,4 Prozent der Bevölkerung eine Impfdosis verabreicht werden. Anhand der luxemburgischen Daten zu den sozialen Interaktionen in der Bevölkerung, dem Krankenhausaufenthalt von Covid-Patienten und den Neuinfektionen simulierten die Forscher mit einem mathematischen Modell den Verlauf der Pandemie.
Immunität bereits fortgeschritten
Die gute Nachricht: Eine effiziente und schnelle Verteilung des Impfstoffes, gekoppelt mit den seit November geltenden Maßnahmen könnte in wenigen Monaten zur Herdenimmunität führen. Doch selbst wenn die Regierung ein Jahr benötigt, um die gesamte Bevölkerung zu impfen, könnte laut den Forschern schon im Juni eine kollektive Immunität eintreten. Das wäre schneller als etwa in Belgien, wo laut Experten die « Durchseuchung » der Bevölkerung erst Ende September erreicht werden könnte.
Wie ist ein solcher Unterschied zu erklären? Laut den Forschern ist die Herdenimmunität in Luxemburg auch ohne Impfungen bereits weiter fortgeschritten. Ihre Rechnungen gründen also auf der Annahme, dass nur Menschen geimpft werden, die noch keine Infektion hinter sich haben. An dieser Stelle kommen die Forscher zum Schluss, dass bereits 18,3 Prozent der luxemburgischen Bevölkerung sich mit Sars-CoV-2 infiziert hätten. Laut offiziellen Zahlen des Gesundheitsministeriums liegt der Wert zurzeit bei 7,6 Prozent.
Das würde bedeuten, dass trotz „Large Scale Testing“ etwa drei von fünf Infektionen unentdeckt blieben. Selbst im Lockdown-verschonten Schweden, dessen ganze Strategie auf dem möglichst schnellen Erreichen der Herdenimmunität basierte, sollen sich bisher nur 14,5 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infiziert haben.
Falls das Virus in Luxemburgs Bevölkerung tatsächlich schon weiter verbreitet wäre, könnte dies bei der Ende Dezember gestarteten Impfstrategie von Vorteil sein. Menschen, die bereits Antikörper gegen das Virus gebildet haben, benötigen keine Impfung. Das Ministerium könnte somit zumindest in der Theorie selektiver vorgehen. Das Problem bei der Umsetzung: Das Krankenhauspersonal müsste zur Sicherheit jede Person vor der Impfung auf Antikörper testen.
Ein sehr optimistisches Szenario
Die Projektionen sind allerdings nicht nur aus diesem Grund problematisch. Die Forscher nehmen nämlich an, dass eine einzige Dosis des Impfstoffes bereits ausreichen würde. Die zurzeit zugelassenen Impfprotokolle sehen allerdings zwei Impfungen vor. Fußt die Strategie nur auf den bereits zugelassenen Impfstoffen von „Pfizer-BioNTech“ oder „Moderna“, müssten also täglich 5.400 Menschen geimpft werden. Selbst in dem etwas pessimistischeren Szenario einer einjährigen Impfkampagne müssten Ärzte täglich 3.400 Impfdosen verabreichen, damit mit den bestehenden Maßnahmen der Kontaktreduktion ab Juni die Schwelle der Herdenimmunität überschritten wird.
Zurzeit ist man allerdings noch meilenweit von einer entsprechenden Verteilung des Impfstoffes entfernt. Wegen der erst nach und nach eintreffenden Lieferungen handelt die Regierung äußerst vorsichtig. Dabei fehlt es nicht nur an Dosen. Nur etwa zwölf Prozent des verfügbaren Bestandes an Impfstoffen wurden bisher verabreicht. Und selbst wenn die Ärzte 100 Prozent des bereits im Land verfügbaren Impfstoffes verabreicht hätten, läge man im Schnitt bei höchstens 1.400 Impfungen täglich.

Die Hoffnung lautet natürlich: Mit weiteren Neuzulassungen von Vakzinen soll das tägliche Impfvolumen stetig ansteigen. Am Dienstag reichte der Pharmakonzern „AstraZeneca“ einen Antrag zur Vermarktung ihres Impfstoffes bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) ein. Eine Entscheidung dürfte noch im Januar fallen. Doch auch hier bleibt die Frage offen, wie viele Dosen der Konzern wie schnell liefern kann.
Die vielfältige Unsicherheit veranlasste Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) bisher dazu, keine Aussage zum Zeitplan der Impfstrategie zu machen. „Niemand kann sagen, wann wir die Herdenimmunität erreichen, denn das wäre reine Spekulation“, so die Ministerin während einer Pressekonferenz am vergangenen Dienstag. Mit dieser Aussage wollte die LSAP-Politikerin aber wohl eher neugierigen Journalisten vorgreifen als die Forscher der Universität Luxemburg als « Spekulanten » zu bezeichnen.
Impfungen laufen langsam an
Tatsächlich ist es auch für Forscher schwierig, eine Einschätzung abzugeben, und das liegt auch am Ministerium selbst. Bisher teilt das Gesundheitsministerium die Zahl der Geimpften nur teilweise mit. Am Freitag verkündete Paulette Lenert im Parlament, dass etwa 1.400 Menschen die erste Dosis des „Pfizer-BioNTech“ erhalten hätten.
Am Dienstag veröffentlichte die Regierung erstmals aktuelle Zahlen in ihrem Tagesbericht zur Lage der Pandemie. Demnach wurden am 11. Januar 242 Personen geimpft. Seit dem Start der Kampagne am 28. Dezember 2020 erhielten in Luxemburg 1.943 Menschen eine Impfung gegen Covid-19.
Der Rhythmus der Impfungen ist also noch weit von den nötigen Tausenden Dosen pro Tag entfernt. Dabei hapert es nicht an der Logistik. In der vergangenen Woche hat die Impfkampagne in den Alten- und Pflegeheimen begonnen, seit Dienstag wird auch das Krankenhauspersonal vor Ort geimpft. Zusätzlich zum Impfzentrum in Limpertsberg kamen mobile Einheiten in den Altenheimen zum Einsatz und die Krankenhäuser führen die Impfungen jetzt selbst durch.
„Was jetzt zählt, ist die Produktion des Impfstoffes. An Bestellungen fehlt es nicht“, sagte die Gesundheitsministerin am Freitag. Laut ihrem Ministerium hat « Pfizer-BioNTech » allerdings bereits mindestens 14.575 Dosen geliefert. Weitere 1.200 Dosen des Pharmakonzerns „Moderna“ folgten am Montag. Da die EMA empfiehlt, pro Ampulle nicht mehr nur fünf, sondern sechs Dosen des „Pfizer-BioNTech“-Impfstoffes zu entnehmen, sind die Kapazitäten leicht gestiegen.
Die Impfstoffe im Überblick
Die Mitgliedstaaten haben sich im Juni 2020 darauf geeinigt, dass die Europäische Kommission bei der Impfstoffstrategie federführend ist. Die EU-Exekutive schließt demnach mit den Produzenten Verträge ab und verteilt die bestellten Dosen auf Pro-Kopf-Basis an die Mitgliedstaaten. Luxemburg stehen 0,14 Prozent der von der EU eingekauften Impfdosen zu. Laut dem Gesundheitsministerium hat Luxemburg bereits Impfdosen für 927.399 Menschen bestellt. Die Gesamtzahl könnte in den kommenden Wochen aber noch steigen.
Die verschiedenen Hersteller setzen auf unterschiedliche Methoden. Den größten Auftrag erhielt Pfizer-BioNTech. Bis zu 840.000 Dosen dieses Impfstoffes, der pro Person zwei Mal verabreicht werden muss, sollen nach und nach an Luxemburg geliefert werden. Von Moderna sollen es weitere 224.000 Dosen sein. Sie müssen bei jeweils minus 70 bzw. minus 20 Grad gelagert werden und besitzen eine Wirksamkeit von etwa 95 Prozent. Demnächst soll auch AstraZeneca eine Marktzulassung erhalten. Die Wirksamkeit des britischen Impfstoffes soll bei bis zu 90 Prozent liegen. Weitere Marktzulassungen werden für die Impfstoffe von Johnson-Johnson, CureVac und Sanofi erwartet. Sie durchlaufen noch verschiedene Testphasen. Über den Langzeitschutz der verschiedenen Impfstoffe gibt es unterschiedliche Annahmen, die Forschung dazu dauert noch an.
Dennoch läuft die Kampagne noch nicht auf vollen Touren. Knapp zwei Wochen nach dem Start der Impfkampagne wurden erst 12,3 Prozent des nationalen Bestandes verabreicht, wie das Gesundheitsministerium auf Nachfrage von Reporter.lu mitteilt. Der Grund ist die vorsichtige Herangehensweise der Regierung. „Wir können uns nicht erlauben, jetzt alles aufzubrauchen, denn es muss genug Impfstoff übrig bleiben für die Zweitimpfung“, sagte Xavier Bettel (DP) vergangene Woche auf einer Pressekonferenz.
Die Möglichkeit, den zweiten Termin um einige Tage zu verschieben, um mehr Menschen sofort impfen zu können, lehnt die Regierung demnach ab. Man halte sich an die Vorgaben der EMA. „Wir beginnen jetzt nicht damit herumzuspielen“, sagte Gesundheitsministerin Paulette Lenert vergangene Woche im Parlament.
Ein Wettlauf gegen die Zeit
Andere Staaten haben mit dem „herumspielen“ jedoch schon begonnen oder ziehen es zumindest in Erwägung. Während der künftige US-Präsident Joe Biden laut über die Verlängerung des Zeitraums für eine Zweitimpfung nachdenkt, hat der britische Premier Boris Johnson dies bereits beschlossen. Der Hintergrund dieser Entscheidung ist klar: Die englische Mutation des Virus führte zu rasant ansteigenden Neuinfektionen in Großbritannien. Indem der zweite Termin um drei Monate verschoben wird, soll möglichst schnell ein Großteil der Bevölkerung geimpft werden. So könnte in kurzer Zeit die Bevölkerung zumindest zum Teil immunisiert und die Ausbreitung des Virus damit verlangsamt werden.
Diese Strategie birgt allerdings auch Risiken: „Wenn ein großer Teil der Bevölkerung nur teilweise geschützt ist, besteht die Gefahr einer Fluchtmutation“, sagt Claude Muller im Gespräch mit Reporter.lu. « Eine solche Mutation könnte dazu führen, dass das Virus einer Immunantwort entgeht », so der Virologe des „Luxembourg Institute of Health“.
Gegen eine leichte Verzögerung hat der Experte allerdings nichts einzuwenden. „Von anderen Impfstoffen wissen wir, dass die Zweitimpfung auch etwas zeitversetzt stattfinden kann. Die zweite Dosis zwei bis drei Tage früher oder eine Woche später zu verabreichen, sehe ich aus immunologischer Sicht nicht als problematisch an. Spätestens nach sechs Wochen sollen Ärzte diese Dosis allerdings verabreichen“, so Claude Muller. Eine minimale Verschiebung der zweiten Dosis könnte bereits eine erheblich größere Flexibilität in der Logistik zulassen und eine schnellere Durchimpfung ermöglichen, erklärt der Virologe.
Neuer Impfplan in Ausarbeitung
Angesichts der künftigen Zulassungen und der zusätzlichen Lieferungen hat die Regierung ihren nationalen Impfplan am Freitag überarbeitet. Nach dem Pflege- und Krankenhauspersonal und den Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen sollen die über 75-Jährigen geimpft werden. Anschließend folgen die über 65-Jährigen sowie Menschen über 50, die einer Risikogruppe angehören. In den letzten beiden Phasen sollen auch die anderen Risikogruppen geimpft werden sowie abschließend auch die restliche Bevölkerung über 16 Jahren und die Grenzgänger.
Die Regierung hat ihr neues Konzept nun an den Ethikrat und den « Conseil Supérieur des Maladies Infectieuses » weitergereicht. Beide Gremien sollen dazu Stellung beziehen. Erst dann will die Regierung ihren Plan der Öffentlichkeit vorstellen. Erst dann könnte es auch Details zu einem möglichen Zeitplan für die nächsten Phasen des Impfplans geben.
Die Frage, ab wann mit einer Herdenimmunität zu rechnen ist, bleibt aber wahrscheinlich offen. Und auch eine Antwort auf die brennende Frage, wann ein einigermaßen normales Leben wieder möglich sein wird, wird nach den Worten von Paulette Lenert wohl noch eine Weile « Spekulation » bleiben.