Nach einem Schlaganfall leben viele Menschen mit einer Behinderung. Um lebenslange Beeinträchtigungen zu vermeiden, sind die Organisation in den Kliniken und die Reaktion der Ärzte entscheidend. Eine vielversprechende Behandlungsmethode wird in Luxemburg nur wenig angewendet.

Es war Ende November, als Simons* Frau ihn regungslos auf dem Küchenboden vorfand. Der Kaffee, den ihr Ehemann noch schnell vor der Arbeit trinken wollte, war über den ganzen Boden verschüttet, die Tasse lag zerbrochen neben ihm. Heute sitzt Simon im Rollstuhl. Nach seinem Schlaganfall ist er auf der linken Körperhälfte gelähmt. Seine Familie erhebt den Vorwurf, dass die Ärzte nachlässig gehandelt haben.

Besonders in den ersten Stunden hätten die Ärzte Fehlentscheidungen getroffen, so der Verdacht der Familie. So wurde bei Simon keine Thrombolyse durchgeführt, obwohl sich dadurch laut Studien die Wahrscheinlichkeit nahezu verdoppelt, ohne einschneidende Behinderungen weiterzuleben. Durch diese medikamentöse Therapie kann ein Blutgerinnsel per Infusion aufgelöst und bleibende Hirnschäden somit minimiert werden.

Doch es geht nicht nur um Simon. Recherchen von REPORTER zeigen: Er ist kein Einzelfall. In Luxemburg haben längst nicht alle Schlaganfallpatienten Zugang zu dieser Behandlungsform. Wie Betroffene in den entscheidenden Minuten behandelt werden, hängt letztlich vom Arzt und vom Krankenhaus ab, in dem sie versorgt werden.

Nicht jede Klinik verfügt über eine « Stroke Unit »

Was genau mit den Patienten geschehen soll, wenn sie ins Krankenhaus eingeliefert werden, steht im Leitfaden des „Conseil Scientifique“. Dieses unabhängige Gremium setzt sich aus Medizinern und anderen Fachleuten zusammen. An seinen Empfehlungen orientieren sich die Notdienste und das Gesundheitsministerium. „Der Patient muss in ein Krankenhaus mit einer ‘Stroke Unit’ eingeliefert werden“, einer Spezialabteilung für die Behandlung von Schlaganfällen also, heißt es im Leitfaden.

Wird ein Schlaganfallpatient in einem Krankenhaus behandelt, in dem keine strukturierte Behandlungskette für den Schlaganfall organisiert ist, dann gibt es für den Patienten ganz klar eine Minderung der Heilungschancen.“Dr. Alexandre Bisdorff, Neurologe

Warum das so wichtig ist, erklärt Dr. Alexandre Bisdorff, Präsident des « Conseil Scientifique » und Neurologe im CHEM: „Wird ein Schlaganfallpatient in einem Krankenhaus behandelt, in dem keine strukturierte Behandlungskette für den Schlaganfall organisiert ist, dann gibt es für den Patienten ganz klar eine Minderung der Heilungschancen.“

Das Problem der Versorgung in der Hauptstadt

Entscheidend sei eine schnelle und effiziente Behandlungskette unter anderem für die Durchführung der viel versprechenden Thrombolyse. Diese muss innerhalb der ersten viereinhalb Stunden nach dem Hirninfarkt erfolgen. Je früher, desto besser.

Bis Januar 2019 gab es in Luxemburg allerdings lediglich drei Krankenhäuser mit einer „Stroke Unit“: das „Centre hospitalier de Luxembourg“ (CHL) in Strassen, das „Centre hospitalier Emile Mayrisch“ (CHEM) in Esch und das „Centre hospitalier du Nord“ (ChdN) in Ettelbrück.

Problematisch war dies bis vor kurzem im Zentrum des Landes: In der Hauptstadt gewährleisten CHL und „Hôpital Kirchberg“ den Notfalldienst abwechselnd – das „Hôpital Kirchberg“ ist allerdings erst seit Januar dieses Jahres im Besitz einer ministeriellen Genehmigung für seine eigene „Stroke Unit Level 1“.

Die Krankenhäuser in Wiltz, Niederkorn, Luxemburg-Eich und die ZithaKlinik haben keine eigene „Stroke Unit » – Patienten mit Verdacht auf Schlaganfall sollten deshalb stets in eins der anderen Krankenhäuser eingeliefert werden.

Warum braucht es eine „Stroke Unit“?

Eine « Stroke Unit level 1 » bietet unter anderem den Vorteil eines interdisziplinären Expertenteams, einem direkten und schnellen Zugang zum Scanner oder IRM und einem spezialisierten Monitoring der Herzrythmusstörungen. Diese bilden eine strukturierte Behandlungskette, die oft ausschlaggebend für eine schnelle und effiziente Behandlung ist.

Patienten, die nach einem Hirnschlag wegen einer Hirnblutung behandelt werden müssen oder eine mechanische Thrombektomie benötigen, müssen auf einer « Stroke Unit level 2 » behandelt werden. Dort sind die Neurologen oder Radiologen für diese invasive Behandlung zusätzlich ausgebildet.

Wenn wirklich jede Sekunde zählt

Bei einem Schlaganfall tickt die Uhr. Schnell muss eine Entscheidung her, ob der Patient für eine Thrombolyse infrage kommt. Oft wird die Behandlung als « best practice » angepriesen. „Bei einem ischämischen Schlaganfall mit einem messbaren neurologischen Schaden muss eine Thrombolyse in Betracht gezogen werden“, so die Empfehlung des „Conseil Scientifique“. Ein ischämischer Schlaganfall mit einer plötzlichen Durchblutungsstörung des Gehirns ist die häufigste Form eines Hirninfarkts.

Die „European Stroke Organisation“ (ESO) und „Stroke Alliance for Europe“ (SAFE) gehen in ihrem Aktionsplan für Europa sogar noch weiter: 95 Prozent aller Schlaganfallpatienten sollten je nach Situation und in einem festgehaltenen Zeitrahmen von einer Thrombolyse oder einer Thrombektomie profitieren können.

„Hätte man bei Simon eine Thrombolyse durchgeführt, hätte er möglicherweise nach ein paar Tagen nach Hause gehen können“, sagt ein Familienmitglied. Die Betonung liegt dabei auf dem Wort „gehen“. Aber eben auch auf « möglicherweise ». Denn dass dies tatsächlich im besagten Fall zugetroffen hätte, dafür gibt es keine Gewissheit.

Eine Therapie mit eigenen Risiken

„Die meisten Patienten, die in einer Stroke Unit aufgenommen werden, bekommen keine Thrombolyse“, unterstreicht Dr. Bisdorff. So gibt es zahlreiche Gründe, warum diese Behandlung nicht durchgeführt wird: Ist der Zeitpunkt des Schlaganfalls nicht bekannt, bei unterschiedlichen Medikamenten, nach rezenter Kopf- , Bauch- oder Herz-Operation, nach Sturz, bei Hirnblutung und wenn die Grenze der viereinhalb Stunden überschritten wurde.

Bei minimalen Symptomen wie einem schlaffen Auge oder einer schlaffen Gesichtshälfte gehen viele Luxemburger Ärzte das Risiko einer Thrombolyse nicht ein. Gleiches gilt in Fällen, in denen sich die Symptome beim Eintreffen im Krankenhaus rasch verbessern.

« Der Grund für die sorgfältige Auswahl der Patienten, die eine Thrombolyse bekommen, liegt an der potentiellen Gefahr dieser Behandlung. Es besteht das Risiko, dass der Patient bei dieser Behandlung an inneren Blutungen oder einer Hirnblutung stirbt », warnt Dr. Bisdorff.

Weniger Thrombolysen als im Ausland

Auch eine Sprecherin im CHL bestätigt, dass die Risikoabwägung einer Thrombolyse im Ermessen des Arztes liegt. Bei wie vielen Fällen im Land die Behandlung durchgeführt wird, lässt sich nicht mit Genauigkeit sagen. Zuverlässige Statistiken gibt es auf nationaler Ebene nicht. Dr. Bisdorff schätzt, dass im CHEM bei rund zehn Prozent der Schlaganfallpatienten eine Thrombolyse durchgeführt wird.

„In einigen Ländern liegt der Anteil der Thrombolysen etwas höher, was aber auch vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass sie die Thrombolyse auch bei leichteren Symptomen anwenden oder die Erkennung des Schlaganfalls außerhalb des Krankenhauses und die Geschwindigkeit der Krankenhausaufnahme besser organisiert sind“, sagt der Experte. Laut einem Bericht der „Stroke Alliance for Europe“ (SAFE) gelten Länder wie Deutschland, die Niederlande, Finnland und Österreich als Vorreiter. Bei ihnen wurden bereits vor 2016  in 14 bis 17 Prozent der Fälle eine Thrombolyse durchgeführt.

Dr. Bisdorff ist davon überzeugt, dass auch in Luxemburg die Anzahl der Thrombolysen in Zukunft weiter steigen wird. Laut ihm würden immer mehr Ärzte merken, dass das Risiko nicht so hoch sei wie anfangs angenommen.

Problematische Aufteilung der Notdienste

Die Aufteilung der Notdienste in der Hauptstadt ist aber auch aus einem weiteren Grund problematisch. Denn eine „Stroke unit level 2“, auf der neben der Thrombolyse auch eine Thrombektomie durchgeführt werden kann, gibt es aktuell nur im CHL in Strassen. Bei dieser zweiten Behandlung wird das Blutgerinnsel mittels eines Katheters aus dem verschlossenen Gefäß herausgezogen.

Seitens der „Hôpitaux Robert Schuman“ schätzt man, dass ungefähr fünf bis sieben Prozent ihrer Schlaganfallpatienten eine Thrombektomie benötigen. „Diese invasive Behandlung muss rund um die Uhr schnell verfügbar sein“, warnt Dr. Bisdorff. Doch genau das war bis vor wenigen Monaten in Luxemburg nicht der Fall.

Wenn das CHL keinen Notdienst hat, werden unsere Patienten nach Lüttich, Metz oder Trier gebracht. »Pressestelle der « Hôpitaux Robert Schuman »

Bis vor Kurzem stellte sich die Frage, was denn mit Patienten passierte, wenn das „Hôpital Kirchberg“ den Notfalldienst gewährleistete und die einzige „Stroke Unit Level 2“ des Landes demnach geschlossen war. Patienten wurden dann ins Ausland transportiert. Erst seit dem 1. Februar 2019 funktioniert die Spezialeinheit im CHL 24 Stunden am Tag – unabhängig des Notdienstplans.

Doch auch dies hat die Effizienz auf nationaler Ebene nicht unbedingt erhöht. Dass das CHL für Schlaganfallpatienten mittlerweile rund um die Uhr in Alarmbereitschaft steht, weiß man etwa im „Hôpitaux Robert Schuman“ noch nicht. „Wenn das CHL keinen Notdienst hat, werden unsere Patienten nach Lüttich, Metz oder Trier gebracht“, heißt es dort von der Pressestelle.

Lösung ist für « spätestens 2024 » geplant

Dass die aktuelle Aufteilung der Notfalldienste im Zentrum des Landes weiterhin problematisch ist, weiß auch das Gesundheitsministerium. Ab 2020 sollen die Notaufnahmen in Strassen und Kirchberg an Werktagen tagsüber parallel geöffnet werden. „Spätestens ab 2024 sollen dann beide Notfalldienststellen 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche geöffnet sein“, erklärt eine Sprecherin von Gesundheitsminister Etienne Schneider (LSAP).

Bis dahin muss jedes Krankenhaus mit einer „Stroke Unit 1“ eine Vereinbarung mit einem Krankenhaus mit „Stroke Unit 2“ unterschreiben, um den Patienten dorthin verweisen zu können. „Somit soll dem Patienten die Kontinuität seiner Versorgung entsprechend seiner Bedürfnisse und der Zugang zu qualitativ hochwertigen Behandlungen zugesichert werden“, heißt es aus dem Ministerium weiter. Zudem müsse jedes Krankenhaus mit Notfalldienst ein Versorgungsprotokoll zur Behandlung von Schlaganfällen erstellen, um die im Januar 2019 festgehaltenen Normen und Qualitätsansprüche einzuhalten.

Für Simon werden diese Anpassungen nicht mehr helfen. Der 51-Jährige befindet sich gegenwärtig in einer Reha-Klinik. Seine vier Kinder besuchen ihn dort regelmäßig, seine Frau weicht kaum von seiner Bettkante. Unterhalten kann sich seine Familie mit Simon nicht mehr. Sein Hirnschaden hat dazu geführt, dass er nicht mehr zu verstehen scheint, was seine Frau oder seine Kinder ihm eigentlich sagen wollen.

Es ist schwer zu urteilen, ob die Ärzte in Simons Fall falsch handelten. Fest steht, dass die Behandlungsmöglichkeiten für Schlaganfälle in den vergangenen Monaten deutlich verbessert wurden. Ebenso klar ist aber, dass dies für Simon und seine Familie nur ein schwacher Trost sein wird.

* Name wurde von der Redaktion geändert.


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