Das Gesundheitssystem setzt in der Coronavirus-Krise neue Ressourcen frei. Das kann allerdings zu Lasten von Menschen gehen, die nicht an Covid-19 erkrankt und dennoch dringend pflegebedürftig sind. Die Familie eines Schlaganfall-Patienten berichtet von ihrem Leidensweg.

„Ich bettele geradezu um Hilfe, aber niemand scheint mich zu hören », sagt Jennifer*. Sie kümmert sich praktisch 24 Stunden am Tag um ihren Mann. Simon* erlitt Ende 2018 einen Schlaganfall und ist seitdem ein Pflegefall. Der 52-Jährige versteht nicht, dass er nicht mehr der ist, der er einmal war und dass er nicht mehr das kann, was er einmal konnte. Er ist linksseitig gelähmt und kann nicht mehr richtig gehen. Außerdem ist er kognitiv stark eingeschränkt und damit dauerhaft auf Hilfe und professionelle Aufsicht angewiesen.

Seine Familie versucht, sich so gut wie möglich selbst um ihn zu kümmern, ist aber maßlos überfordert. Seine Ehefrau kann sich nur noch ausruhen, weil ihr ältester Sohn regelmäßig für sie einspringt. Der 20-Jährige übernimmt momentan die „Nachtschichten“ und kümmert sich dann um seinen Vater, wenn Jennifer schläft.

Simon bräuchte eigentlich eine professionelle Rundumbetreuung. Bis vor knapp zwei Wochen hat er die auch bekommen. Von montags bis freitags wurde sich in einem „Centre de Jour“ um ihn gekümmert. Er wurde zu Hause abgeholt, im Pflegeheim geduscht und vom Personal angemessen betreut. Diese Hilfe gibt es seit mehreren Tagen nicht mehr, denn sie wurde wegen der Coronavirus-Pandemie gestrichen.

« Wegen des Coronavirus »

Per Brief wurde die Familie am 17. März darüber informiert. Simon müsse zu Hause bleiben, die Hilfe in den « Centres de Jour » werde auf ein Minimum reduziert und gelte nur noch für jene Patienten, die sonst niemanden mehr haben. Der Pflegedienstleister beruft sich dabei ausdrücklich auf Vorgaben der Regierung. Die Maßnahmen müssten sofort umgesetzt werden – „wegen des Coronavirus“, wie es in einer E-Mail heißt, die REPORTER vorliegt.

Vom Ministerium für soziale Sicherheit heißt es, dass die « Centres de Jour » bis auf Weiteres prinzipiell geschlossen seien. Nur Kunden, die keine andere Möglichkeit haben, dürften die Heime weiterhin besuchen.

Vom Dienstleister « Help » heißt es auf Nachfrage, dass man die Aktivität in den Heimen bereits ab dem 11. März zurückgeschraubt habe – also vor den ersten restriktiven Maßnahmen der Regierung. « Hëllef Doheem » teilt unterdessen in einem Schreiben vom 15. März mit, dass sich alle Pflegedienste zu Hause in der aktuellen Situation vor allem auf die absolut notwendige Pflege konzentrieren. Alles andere muss warten. Wer bisher nicht von einem Pflegedienst zu Hause profitiert hat, hat alle Mühe der Welt, jetzt noch einen solchen zu finden. Denn die Nachfrage ist in der aktuellen Krise größer als das Angebot.

Pflegediensten droht die Überlastung

Die Maßnahmen werden ergriffen, damit sich weder Kunden untereinander noch das Pflegepersonal ansteckt. Breitet sich das Virus erst einmal in einer solchen Struktur aus, kann das schwerwiegende Folgen haben. Denn ältere Menschen sowie jene mit Vorerkrankungen stellen nun einmal die größte Risikogruppe da. Auch Simon gilt als Schlaganfall-Patient in der Pandemie als besonders gefährdet.

Präventive Maßnahmen sind demnach unabdingbar. Doch die Vorgaben zum « Social Distancing » und zum Schutz der Risikogruppen schränken die Hilfe der Pflegedienste stark ein. So sehr, dass sich nun Privatleute wie Jennifer um diese Hilfe kümmern müssen, obwohl sie gar keine Kenntnisse in der Pflege von Menschen haben.

Simon braucht eigentlich eine 24-Stunden-Betreuung. Aber die kann ich ihm nicht so geben, wie er sie eigentlich benötigt. »Ehefrau Jennifer

Ob ein Kunde aktuell noch Hilfe bekommt, hänge zunächst vom Grad der Abhängigkeit der Betroffenen ab, heißt es auch vom Dachverband der Pflegedienstleister COPAS. Zudem würden die unterschiedlichen Pflegedienste vom Personal her an ihre Grenzen stoßen. Ältere Menschen seien generell sehr verunsichert und würden in diesen Tagen auch per Telefon viel um Rat fragen.

Was aber notwendig ist, hängt vom jeweiligen Fall ab. Auch wenn die Familie da ist, stellt sich die Frage, ob sie ein langfristiger Ersatz für eine professionelle Hilfe sein kann.

Covid-19 wird zur obersten Priorität

Mit der Corona-Pandemie haben sich die Prioritäten im Gesundheits- und Pflegebereich deutlich verschoben. Die Pflegedienste drohen wie das ganze Gesundheitswesen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu stoßen. Hinzu kommt die große Herausforderung, Patienten und das eigene Personal zu schützen, wenn es denn nicht schon krank ist. Denn je mehr Mitarbeiter krank werden, desto länger und anstrengender werden die Schichten für diejenigen, die weiter arbeiten.

Das bedeutet aber auch, dass Menschen wie Simon die Leidtragenden sind. Sie sind auf Hilfe angewiesen und je nach Schweregrad kann eine Familie diese professionelle Pflege gar nicht übernehmen. Simon ist dabei nur ein Beispiel von vielen. Und auch nicht nur der Pflegebereich ist betroffen. In allen möglichen Sparten des Gesundheitssystems lautet die Devise: Nur noch absolut dringende Fälle werden behandelt.

Während Luxemburg, wie hier im CHL in Strassen, seine Kapazitäten zur Versorgung von Covid-19-Fällen ausbaut, müssen andere Kranke und Pflegebedürftige bereits zurückstehen. (Foto: SIP)

„Die Gesundheit der Bevölkerung hat absolute Priorität. Hier geht es um Menschenleben“, sagte Premierminister Xavier Bettel bei einer Pressekonferenz noch am vergangenen Mittwoch. Gemeint sind damit vor allem Corona-Patienten. Auch wenn andere Krankheiten nicht auf einmal weniger werden und die Krankenhäuser alles in ihrer Macht Stehende versuchen, um keine Patienten zu vernachlässigen: Nicht nur rhetorisch dreht sich in diesen Tagen alles um die Covid-19-Fälle.

Zur unbequemen Wahrheit gehört: Menschen wie Simon müssen dabei zurückstehen. Und mit ihm weitere Patienten, die auch in Nicht-Krisenzeiten dringend pflegebedürftig und für den Rest ihres Lebens auf Strukturen wie das „Centre de Jour“ angewiesen sind.

Von der sorgenden Ehefrau zur Pflegerin

Jetzt kümmert sich seine Frau um ihn und lässt dafür alles andere stehen und liegen. Sie hat letztlich keine andere Wahl. „Simon braucht eigentlich eine 24-Stunden-Betreuung“, sagt sie. „Aber die kann ich ihm nicht so geben, wie er sie eigentlich benötigt.“

Fast zwei Wochen wurde Simon nicht geduscht. Zu Hause ist das nicht möglich, weil das Bad der Familie sich in einem anderen Stockwerk befindet als Simons Zimmer. „Dass er so lange nicht mehr richtig sauber war, ist doch erniedrigend“, sagt Jennifer. Doch sie hat selbst keine Möglichkeit, das zu ändern.

Ihre Vorwürfe sind hart: Man habe die Familie im Stich gelassen, keine Behörde würde sich kümmern, geschweige denn auf einen Brief oder einen Telefonanruf reagieren. Jeder würde auf einen anderen als Anlaufstelle verweisen.

Jennifer kümmert sich mittlerweile auch um Simons Medikamente, wie sie berichtet. Mit einem Apparat entnimmt sie ihm regelmäßig Blut, um sicherzustellen, dass die Gerinnungswerte stimmen. Sie passt die Medikamente zur Blutverdünnung dann an diese Werte an und kümmert sich auch um Simons andere Arzneimittel. Eigentlich die Aufgabe eines Profis. Weil aber sonst niemand da ist, macht Jennifer es selbst.

Eine Familie in der existenziellen Krise

Neben Simon und ihrem 20-jährigen Sohn, hat Jennifer drei weitere, jüngere Kinder zu Hause. Ihren 12-jährigen Zwillingen versucht sie nebenbei auch beim „Homeschooling“ zu helfen. Immer wieder sagt sie im Gespräch im REPORTER, dass sie dabei ist « unterzugehen ». Von den Behörden und den Dienstleistern fühlt sich die Familie im Stich gelassen. Zeit für alltägliche Dinge, wie den Haushalt oder Einkaufen, hat sie schon lange nicht mehr. Den Einkauf würden Freunde übernehmen, sagt Jennifer.

Man muss schon sehr proaktiv sein, damit man überhaupt Hilfe bekommt. »Ehefrau Jennifer

Hinzu kommt auf Dauer ein weiteres Problem: Obwohl die Familie finanzielle Reserven hat, wird auch das Geld langsam, aber sicher knapp. Der älteste Sohn soll im Spätsommer sein Studium im Ausland beginnen. Zudem kann Jennifer nicht arbeiten, weil sie sich in Vollzeit um Simon und die Kinder kümmert. Kurz: Die Familie lebt von Erspartem und von Simons Pflegerente.

Für eine Hilfe vom Sozialamt kommt die Familie nicht infrage, dafür ist sie finanziell noch gerade so zu gut aufgestellt. Stattdessen soll ein Sozialarbeiter Jennifer geraten haben, das Land zu verlassen und in die alte Heimat zu ziehen. « Dabei wohnen wir seit 18 Jahren in Luxemburg », sagt Jennifer. « Die Kinder gehen hier zur Schule, wir haben uns hier ein Leben aufgebaut. Wie kann der einzige Ratschlag in einem solch reichen Land der sein, dass man Luxemburg verlassen soll? »

Nicht mehr als eine kurze Atempause

Vom Ministerium für soziale Sicherheit heißt es, dass die Anbieter weiterhin in Kontakt mit ihren Kunden stehen, um sicher zu gehen, dass es ihnen den Umständen entsprechend gut gehe. Jennifer kann verstehen, dass sich durch das Coronavirus vieles verändert hat. Dass man sich aber um die Kunden sorgt, konnte sie bisher nicht bestätigen. Die Betreuung seit dem 17. März sei eher halbherzig gewesen. « Man muss schon sehr proaktiv sein, damit man überhaupt Hilfe bekommt. »

Sie habe sämtliche Ärzte von Simon angeschrieben, den Pflegedienstanbieter und die Assurance Dépendance und um Hilfe gebeten, erzählt Jennifer. Vergangenen Freitag kam dann die erste gute Nachricht seit Wochen: Auf Bitte von Simons Neurologen hin hat sich der Pflegedienst gemeldet – und ein Angebot gemacht: Jeden zweiten Tag vorbeischauen, Simon waschen und anziehen. Dazu eine Dusche pro Woche im « Centre de Jour ».

« Natürlich bin ich froh über das Angebot », sagt Jennifer. Aber: « Es bleibt für mich unbegreiflich, dass ich alle möglichen Hebel in Bewegung setzen musste, um jetzt endlich auch etwas Hilfe zu bekommen. »

Doch die Hilfe ist in der aktuellen Situation nicht mehr als eine kurze Atempause für die Ehefrau. Zeit, um einkaufen zu gehen, zur Bank oder zur CNS zu fahren, bleibt für Jennifer weiterhin nicht. Der Großteil der Pflege bleibt weiter an ihr hängen und belastet die ganze Familie. Sie muss auf die Unterstützung von Freunden zurückgreifen. Und hoffen, dass sich ihre ganz persönliche Ausnahmesituation nach der Pandemie vielleicht wieder etwas verbessert.


*Namen wurden von der Redaktion geändert. 


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