Mangel an Fachpersonal, unzureichende Kenntnis der Dossiers, fragwürdige medizinische Kontrollen: Das sind nur einige Vorwürfe, mit denen der kontrollärztliche Dienst der Sozialversicherung zu kämpfen hat. Selbst die Verantwortlichen geben zu: Das Problem liegt im System.
Der Termin beim Kontrollarzt regt viele Patienten auf. Im Vorfeld, weil sie nicht genau wissen, was sie erwartet. Oder danach, weil sie nicht glauben können, wie die Kontrolle abgelaufen ist. So erging es auch Tom Weber*. Er wurde mit zwei Leistenbrüchen operiert, war während mehreren Wochen krank geschrieben. Dann wurde auch er zum « Contrôle Médical » zitiert – so, wie jeder, der mehr als 40 Tage krank geschrieben ist.
Untersucht wurde er aber nicht von einem Urologen, sondern von einer Neurologin. Der Patient meint, sie hätte gar nichts mit seinem Fall anfangen können. « Sie war auch gar nicht auf mein Krankheitsbild spezialisiert », sagt er im Gespräch mit REPORTER. « Ich musste sie erst einmal darüber aufklären, warum ich überhaupt da bin. Dabei hat mich doch der Contrôle Médical einberufen », so der Patient.
Die Geschichte von Tom Weber ist kein Einzelfall. Ganz im Gegenteil. « Wir haben ein großes Dossier an Beschwerden », sagt Michèle Wennmacher vom Verband der « Patientevertriedung ». « Ging früher alle zwei Monate eine Beschwerde bei uns ein, sind es heute zwei pro Woche. » Sie richten sich alle gegen den kontrollärztlichen Dienst des « Contrôle Médical de la Sécurité Sociale » (CMSS).
Zahl der Besuche beim « Kontrollarzt » steigt
Im vergangenen Jahr stieg nicht nur die Zahl der Beschwerden, sondern auch der Personen, die zu einem Termin beim « Contrôle Médical » gerufen wurden. Waren es 2017 noch 31.463 Personen, stieg die Zahl im Jahr 2018 auf 43.733. Auch die Zahl der Krankschreibungen stieg an – von 665.000 (2017) auf 769.00 (2018).
Der Contrôle Médical entscheidet dann, ob ein Patient gesund oder (noch) krank ist. Das hört sich eigentlich nach einer einfachen Prozedur an. Der Arzt schaut sich die Krankenakte an, untersucht den Patienten und entscheidet, ob der Krankenschein verlängert wird oder nicht. Doch nicht jede Krankheit, nicht jede Diagnose lässt sich auch so einfach feststellen.
Hinzu kommt, dass der Kontrollarzt die Krankengeschichte des Patienten in der Regel nicht kennt. Das findet auch der Verband der Ärzte und Zahnärzte, die AMMD, schwierig. « Es soll sich sogar in die Behandlung eingemischt werden, was natürlich die Vertrauensbasis zwischen Patient und Behandler in Frage stellt », sagte Dr. Alain Schmit, Präsident der AMMD, vor kurzem im Gespräch mit der Wochenzeitung « Woxx ».
Jeder kümmert sich um alles
Was fest steht: Wer zum medizinischen Kontrolldienst kommt, wird nicht notgedrungen von einem Spezialisten untersucht – sondern in der Regel von dem Arzt, der gerade Zeit hat. Ausnahmen gibt es für schwere Krankheitsfälle oder psychologische Krankheiten, für die ein Psychologe zum Einsatz kommt. Die Erklärung dafür ist eigentlich einfach: Wer als Arzt beim Controle Médical beginnt, der wird « Kontrollarzt » und gibt seine Facharztrichtung damit praktisch auf. Jeder kümmert sich demnach um alles.
Wir können gar nicht wissen, mit welchen Anliegen der Patient zu uns kommt. »Dr. Gérard Holbach, Leiter des CMSS
Während Patienten wie Tom Weber das nicht nachvollziehen können, sieht die Leitung des Contrôle Médical darin kein generelles Problem. « Jeder Arzt durchläuft eine medizinische Grundausbildung von fünf bis sechs Jahren. Demnach kennt auch jeder Arzt alle medizinischen Bereiche. Ansonsten könnten wir ja auch keine Allgemeinmediziner einstellen », sagt der Leiter des CMSS, Dr. Gérard Holbach. Doch der Vergleich hinkt: Denn auch ein « Generalist » macht nach seiner Grundausbildung noch eine Spezialisierung zum Allgemeinmediziner.
Das Problem liegt im System
Für Gérard Holbach liegt das Problem des CMSS gar nicht bei den Kontrollärzten. Sondern am System. Will heißen: Jede Krankschreibung eines in Luxemburg Versicherten geht automatisch an den CMSS. Wer mehr als 40 Tage lang krank geschrieben ist, wird dann auch automatisch zu einem Kontrolltermin einberufen. Gérard Holbach sagt, das System habe aber einen Haken: « Auf den Krankenscheinen, die bei uns eingehen, ist gar kein Krankheitsbild vermerkt. Wir können demnach gar nicht wissen, mit welchen Anliegen der Patient zu uns kommt », so der Leiter des CMSS. Das würde der Arzt erst erfahren, wenn er die Krankenakte erhält.
Was Gérard Holbach nicht sagt: Auch wenn die Krankheit oder das medizinische Problem des Patienten auf dem Krankenschein vermerkt wäre, würde sich wohl trotzdem kein Spezialist um ihn kümmern können. An Ärzten selbst mangelt es auf Anhieb angesichts der Statistik nicht. Beim Contrôle Médical arbeiten nämlich rund 35 Ärzte – für 43.733 Personen pro Jahr. Das sind etwa 900 Patienten, um die sich pro Woche 35 Ärzte kümmern sollen. Der Kontrollarzt sieht somit im Durchschnitt weniger Patienten als ein Allgemeinmediziner in seiner Praxis.
« Wir haben Leute hier, die gar nicht hierhin gehören »
Doch das Problem der Kontrollen ist noch tiefgreifender. Auch weil das System des Contrôle Médical automatisiert ist. Dadurch werden auch Patienten zur Kontrolle einberufen, die eigentlich gar nicht zur Kontrolle kommen müssten. Macht beispielsweise ein Krebspatient eine Chemotherapie im Ausland und ist länger als 40 Tage krank geschrieben, erhält er Post vom Controle Médical. Wer dann so gewissenhaft ist und seine Therapie unterbricht, um den Termin beim Kontrollarzt wahrzunehmen, dem wird mitgeteilt, dass er gar nicht hätte kommen müssen.
« Wir haben regelmäßig Leute hier, die gar nicht hierhin gehören », so Gérard Holbach. Warum die Leute dann überhaupt einbestellt werden? « Weil das Computersystem automatisiert ist und Kontrolltermine auch automatisch an die Leute verschickt werden. »
Was sich eher absurd anhört, macht den Patienten oft genug Probleme. Dass sie sich dennoch dafür entscheiden, den Termin wahrzunehmen, ist verständlich. Immerhin hängt davon ab, ob es weiterhin Krankengeld gibt und ob der Patient weiterhin krank geschrieben wird – oder nicht.
Lösung: Elektronische Patientenakte
Statt für eine Anpassung des Systems zu werben, weist Gérard Holbach die Verantwortung letztlich von sich – und verweist auf die behandelnden Ärzte außerhalb des Systems. « Wir erhalten keine Information darüber, wenn Ärzte ihre Patienten für eine Behandlung oder eine Kur ins Ausland schicken. »
Nicht nur deshalb wünscht er sich eine elektronische Krankenakte, in der vermerkt wird, was der Patient für eine Krankheit hat und wo er behandelt wird. « Das alles sind Details, die momentan nicht auf einer Krankschreibung festgehalten werden », so Gérard Holbach. « Also können wir auch nicht abwägen, für welchen Patienten eine Kontrolle bei uns sinnvoll ist und für wen nicht. »
Es ist gut, dass sich viele Menschen heute nicht mehr alles gefallen lassen. »Michèle Wennmacher, Patientevertriedung
Es ist sicherlich keine Kleinigkeit, wenn ein Krebspatient seine Therapie unterbrechen muss, um nach Luxemburg zum Kontrollarzt zu kommen. Das Problem ist auch der Patientevertriedung bekannt. « Da sind Menschen, die schwer krank sind und die sich dann trotz allem zum Kontrollarzt schleppen », so Michèle Wennmacher.
Die Fronten sind verhärtet
« Wir sind sowieso immer die Bösen », sagt seinerseits Gérard Holbach. Weil die Kontrollärzte die einzigen seien, die den Patienten auch mal « Nein » sagen würden. Er sagt aber auch, dass nur die wenigsten Patienten Einspruch gegen die Entscheidungen der Kontrollärzte einlegen. Dabei könnte das jeder, der mit einer Entscheidung nicht einverstanden sei. Glaubt man der Patientevertriedung, scheinen das viele zu sein – auch, wenn nicht jeder rechtliche Schritte einlegt.
Eine mögliche Erklärung: Die Prozedur dauert, kostet Ausdauer – und wenn ein Anwalt ins Spiel kommt – auch noch Geld. Legt jemand Einspruch ein, geht die Akte an den Verwaltungsrat der Gesundheitskasse CNS. Entscheidet sie gegen den Einspruch, kann der Patient seinen Fall einem Schiedsgericht (« Conseil arbitral de la Sécurité sociale ») vorlegen.
« Es ist gut, dass sich viele Menschen heute nicht mehr alles gefallen lassen », sagt Michèle Wennmacher. Dr. Gérard Holbach sagt seinerseits, dass die Menschen heute viel aggressiver seien als früher. « Wir mussten auch schon die Polizei einschalten », sagt er. Die Meinungen zu den Vorfällen könnten kaum weiter auseinander gehen. Demnach sind die Fronten verhärtet. Sowohl zwischen der Patientevertriedung und der CMSS als auch zwischen der CMSS und der Ärzteschaft.
Sozialminister hielt sich bisher zurück
Dabei bemängeln am Ende alle das Gleiche: Eine transparente Kommunikation. Die hat es aber mal gegeben. Zumindest zwischen der Patientevertriedung und dem CMSS. « Uns wurde aber irgendwann gesagt, wir sollten uns glücklich schätzen, dass man überhaupt mit uns spricht. Immerhin seien wir ja nur eine Asbl », so Michèle Wennmacher. Momentan höre man gar nichts mehr von der Leitung des Contrôle Médical.
Auf der anderen Seite heißt es, die Patientenvertretung sei vom CMSS eingeladen worden, um sich die Funktionsweise des Kontrolldienstes anzuschauen. Die Vereinigung habe die Einladung bisher aber nicht angenommen.
Zurückhaltend zeigte sich bisher vor allem einer: der zuständige Minister Romain Schneider. Dabei sind die Probleme beim Contrôle Médical längst politisches Thema. Regelmäßig landen parlamentarische Anfragen dazu auf dem Schreibtisch des LSAP-Ministers. Die jüngste schildert auch den Fall von Tom Weber.
Der Minister für soziale Sicherheit hat sich jetzt bereit erklärt, sich diese Woche mit der Patientevertriedung zu treffen und über die Probleme, beziehungsweise einzelne Fälle zu diskutieren.
*Name von der Redaktion geändert