Kein Notfallplan und keine Teststrategie: Für den Fall von erhöhten Infektionszahlen sind für Besucher des Drogenhilfezentrums « Abrigado » keine Isolationsmöglichkeiten vorgesehen. Die Politik unterschätzt bisher die prekäre Lage der meist obdachlosen Menschen.
Für den Direktor des „Comité National de Défense Sociale“ (CNDS), Raoul Schaaf, muss eine Lösung her. Er leitet das Drogenhilfezentrum Abrigado in Bonnevoie, das täglich zwischen 180 und 220 Drogenkonsumenten empfängt. Er weiß, dass das Infektionsrisiko dieser Bevölkerungsgruppe nicht zu unterschätzen ist. Inmitten der zweiten Welle müsse man alle möglichen Szenarien ins Auge fassen.
Dabei drängt die Zeit. Dass nach der ersten Infektionswelle immer noch kein Notfallplan steht, falls Drogenbenutzer an Covid-19 erkranken, ist für den Vorsitzenden des Zentrums ein inakzeptabler Zustand. Die Konsumenten werden in seinen Räumlichkeiten auch bei Symptomen nicht auf das Coronavirus getestet, können sich mit einem ärztlichen Rezept aber in ein Testlabor begeben. Von der großflächigen Teststrategie der Regierung, die bisher über 400.000 Tests ermöglichte, ist diese Bevölkerungsgruppe überwiegend ausgeschlossen.
Die Lage erweist sich als äußerst schwierig. Die Besucher des Abrigado, die zumeist kein Smartphone besitzen, nicht krankenversichert sind oder keinen festen Wohnsitz haben, verfügen selbst kaum über eine Möglichkeit, an den regulären Tests teilzunehmen. „Wie sollte ihnen zum Beispiel das Test-Resultat mitgeteilt werden?“, fragt sich Raoul Schaaf.
Abseits der nationalen Teststrategie
Indes wird den Nutzern des Drogenkonsumraums vor dem Betreten der Räumlichkeiten lediglich die Temperatur gemessen. Eine Maßnahme, die ein medizinisches Testverfahren nicht ersetzt und zudem nicht als verlässlicher Indikator einer Erkrankung gelten kann.
Auch der nationale Drogenbeauftragte des Gesundheitsministeriums, Alain Origer, bestätigt, dass sich Drogenkonsumenten nur schwer über jenen Weg testen lassen können, den die Regierung der restlichen Bevölkerung so sehr ans Herz legt. Origer verweist jedoch auf die ärztliche Betreuung im Abrigado, im Rahmen derer ein Corona-Test durchaus möglich wäre.
Wenn wir die Leute testen, dann müssen wir auch wissen, wo wir infizierte Menschen unterbringen und isolieren. »Raoul Schaaf, Leiter des Abrigado
Tatsächlich können Menschen ohne Krankenversicherung hier mehrmals pro Woche einen Allgemeinmediziner von „Médecins du monde“ aufsuchen, der ihnen auch einen PCR-Test verschreiben und diesen idealerweise sogar vor Ort durchführen könnte.
Doch es gibt einen Grund, warum im sogenannten „service médical bas-seuil“ des Abrigado die Einführung einer hauseigenen Teststrategie bisher verworfen wurde. Ein positives Testresultat würde das Abrigado nämlich vor ein weiteres Problem stellen. „Wenn wir die Leute testen, dann müssen wir auch wissen, wo wir infizierte Menschen unterbringen und isolieren“, erklärt Raoul Schaaf.

Eine mögliche Teststrategie sei bisher aufgrund des fehlenden Quarantäneplans verworfen worden, bestätigt Schaaf. Tatsächlich gibt es nach über 6.000 Covid-19-Infektionen im Land und strengen Vorsichtsmaßnahmen für die allgemeine Bevölkerung weiterhin keinen Isolationsplan für die Besucher des Drogenzentrums, um eine Weiterverbreitung des Virus zu vermeiden.
Welche Rolle Quarantäne- oder präventive Isolierungsmaßnahmen in der Strategie der Regierung spielen, wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass allein Mitte Juli 2.269 Bewohner des Landes in Quarantäne und 1.225 in Isolierung waren. Diese Maßnahmen waren ihnen von der Gesundheitsbehörde auferlegt worden, nachdem sie in Kontakt mit infizierten Patienten waren. Demnach scheint es umso wichtiger, eine Infektionskette auch innerhalb dieser besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppe rechtzeitig zu erkennen und möglichst zu unterbrechen. Das Risiko ist real: Pro Jahr gibt es rund 70.000 Besuche im Abrigado – insgesamt sind seit 2005 rund 2.000 Kunden hier für die Nutzung der Drogenräume registriert.
Den Mitarbeitern des Abridago, die zudem auf die Hilfe von Streetworkern von gemeinnützigen Organisationen angewiesen sind, kommt die Aufgabe der Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit dieser Bevölkerungsgruppe zu. Wie es von Mitarbeitern heißt, werden unter den Besuchern im Alltag die Maskenpflicht und die maßgeblichen Hygieneregeln nicht immer eingehalten.
Das Abrigado in Zahlen (2018):
– 73.106 Besuche des Abrigado im Jahr 2018
– 203 Besucher pro Tag, im Durchschnitt
– 11.278 Übernachtungen
– 282.784 verteilte Spritzen
– 83% Männer
– 63 Ambulanzrufe
– 47 Polizeieingriffe
Krankenhaus-Quarantäne „undenkbar“
Im Abrigado selbst gibt es keine geeignete Isolationsmöglichkeit. Die Notschlafstelle zählt 42 Betten, besteht allerdings aus Sechs-Bett-Zimmern. Eine 14-tägige Unterbringung auf engstem Raum wäre demnach eine kaum zumutbare Situation.
Während der ersten Infektionswelle habe es nur in drei Fällen einen ernsthaften Covid-19-Verdacht innerhalb seiner Räumlichkeiten gegeben, so Raoul Schaaf. Lediglich eine Person wurde bisher positiv getestet und kurze Zeit im Krankenhaus behandelt, so der Verantwortliche. Generell war das Abrigado während des Lockdowns stets geöffnet – eine besondere Rolle kam dem Drogenhilfezentrum zu diesem Zeitpunkt zu, als viele Drogendealer die Straßen mieden. In dem Moment wurde dort erstmals eine Substitutionstherapie mit Methadon ermöglicht.
Viele dieser Menschen sind nicht mehr an ein Dach über dem Kopf gewöhnt. »Raoul Schaaf, Leiter des Abrigado
Eine generelle Quarantäne von Drogenkonsumenten im Krankenhaus scheint bei zunehmenden Infektionen zudem nicht realistisch. „Es handelt sich um schwierige Patienten. In den Krankenhäusern fehlt es an speziell geschultem Personal, das die Drogenabhängigen während der Quarantäne adäquat begleiten könnte“, so Raoul Schaaf. Schon unter normalen Umständen sei es für das Pflegepersonal kaum möglich, Drogenabhängige als Patienten zu betreuen und gleichzeitig den normalen Krankenhausbetrieb aufrecht zu erhalten. In der aktuellen Situation und unter Berücksichtigung der Hygieneregeln, die in der Quarantäne gelten, sei es „undenkbar“.
Ein weiterer Umstand verkompliziert die Situation: die fehlende Bereitschaft der Betroffenen, sich im Fall eines positiven Corona-Tests internieren zu lassen. Die Ablehnung entspringt der Befürchtung, dem oft lebensnotwendigen Drogenkonsum innerhalb der vierzehntägigen Isolationsdauer nicht nachgehen zu können. Sie resultiert zudem aus einer Unerträglichkeit für diese Personengruppe, sich über einen längeren Zeitraum in geschlossenen Räumen aufzuhalten. „Viele dieser Menschen sind nicht mehr an ein Dach über dem Kopf gewöhnt“, sagt Raoul Schaaf.
Die schwierige Suche nach Alternativen
Bei der Suche nach einem Quarantäneplan gibt es mehrere Hürden auf unterschiedlichen Ebenen: rechtlich, administrativ, logistisch, medizinisch, sozialpolitisch. Gespräche zwischen dem „Comité National de Défense Sociale“ (CNDS) und der Stadt Luxemburg verliefen bisher im Sand.
Dabei gibt es sehr wohl Orte, die für die Isolierung positiv getesteter Drogennutzer infrage kämen. So wurde kurzfristig das Aufrichten eines Zeltes vor dem Abrigado oder die Aufnahme in einem Hotel oder einer Jugendherberge in Erwägung gezogen. Raoul Schaaf zufolge musste man die zwei ersten Vorschläge aufgrund der „schweren Umsetzbarkeit“ oder auch „ethischer Bedenken“ schnell verwerfen. „Ich halte es für nicht vertretbar, dass wir obdachlose Menschen, bloß weil sie plötzlich krank sind, in einem netten Hotelzimmer logieren und sie dann nach vierzehn Tagen wieder auf die Straße setzen“, argumentiert er.

Bei einer Unterbringung in einer Jugendherberge stellten sich wiederum Probleme juristischer Natur, so Raoul Schaaf. „Menschen, die mit einer Drogenabhängigkeit kämpfen, brauchen in der Quarantäne eine medizinische Unterstützung in Form einer Substitutionsbehandlung“, betont er. Eine fehlende Ersatztherapie sei demnach so lebensbedrohlich wie das Virus selbst und keineswegs als zweitrangig zu betrachten. Die Entzugssymptome und der Suchtdruck dürften keinesfalls unterschätzt werden, warnt der Verantwortliche.
Es ist schwierig, richtige Lösungen für dieses Problem zu finden. »Maurice Bauer (CSV), Schöffe der Stadt Luxemburg
Bei einer Heroinsucht sollte in dem Kontext auf das Opioid Methadon zurückgegriffen werden – im Falle einer Kokainabhängigkeit gelte es, das Medikament Lysox zu verabreichen, erklärt Raoul Schaaf. Doch das Gesetz sieht vor, dass lediglich Einrichtungen mit einer entsprechenden staatlichen Erlaubnis Medikamente lagern und verabreichen dürfen. Die Verantwortlichen des CNDS müssten administrative Hürden überwinden, ehe eine Substitutionstherapie in alternativen Quarantäne-Räumlichkeiten überhaupt möglich würde. Diesbezüglich macht sich Schaaf keine Illusionen: Im Fall eines Corona-Ausbruchs im Abrigado würde die Zeit für diese Schritte fehlen.
Jene Möglichkeiten zur Unterkunft, die der nationale Drogenbeauftragte Alain Origer erwähnt, stellen die Verantwortlichen vor dieselben Herausforderungen. Als Beispiele führt er das von der „Croix Rouge“ geführte Hotel „De klenge Casino“ sowie das von der „Wanteraktioun“ genutzte Gebäude am Findel an. Auch er gibt zu: „Es muss an einem langfristigen Ausweg gefeilt werden, der die Substitutionstherapie und die Medikamentenvergabe ermöglicht.“ Unterdessen gelten innerhalb der Einrichtung in Bonnevoie verschärfte Hygiene- und Distanzregeln, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren.
Gemeindepolitik gibt sich ratlos
Das Infektionsrisiko von Drogenabhängigen, die sich im Bahnhofsviertel und in Bonnevoie auf offener Straße aufhalten, wurde im Gemeinderat der Stadt Luxemburg derweil nicht öffentlich thematisiert. Intern habe sich die Stadtverwaltung zwar mit der Frage beschäftigt, heißt es. Doch fanden die Verantwortlichen bisher keine zufriedenstellende Antwort für den richtigen Umgang mit positiv Getesteten. « Es ist schwierig, richtige Lösungen für dieses Problem zu finden », sagt Maurice Bauer (CSV), Sozialschöffe in der Hauptstadt. Als mögliche Lösung erwähnt er eine Unterkunft der Croix-Rouge, eine Alternative, die vom Leiter des Abrigado jedoch bereits verworfen wurde weil dort bis dato keine Substitutionstherapie möglich ist.
Im Fall von schweren Krankheitsverläufen schließt Maurice Bauer eine Krankenhausaufnahme zudem nicht aus. Zwar weiß er, wie schwierig eine dortige Versorgung für nicht krankenversicherte Menschen ist. Während der ersten Infektionswelle im Frühjahr seien jedoch bereits einige wenige Infizierte dort ärztlich behandelt worden, so der Gemeindepolitiker. Um wieviele Personen es sich dabei handelte, konnte Bauer aber nicht beziffern.
Mit einem langfristigen Plan zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie und Isolierung infizierter Drogenabhängiger kann die Gemeinde Luxemburg viereinhalb Monate nach Beginn der ersten Infektionswelle und vor der für Herbst angekündigten dritten Welle demnach nicht aufwarten. Die Notwendigkeit weiterer Schutzmaßnahmen liegt für alle Seiten zwar auf der Hand. Doch letztlich lässt man es wohl drauf ankommen.