Seit rund vier Jahren herrscht Krieg im Jemen. Nun droht eine akute Hungersnot. Im Westen wurde der Konflikt lange kaum thematisiert. Erst mit dem « New York Times »- Foto der ausgehungerten Amal bekam das Leiden ein Gesicht. Ein Plädoyer für die Macht der Bilder.

Die Medientheorie bringt es auf den Begriff „rapport mort-kilomètre“. Je weiter weg von Zuhause der Tod eines Menschen passiert, desto weniger relevant oder berichtenswert ist er. Es ist ein makaberer Begriff, der eine traurige Realität beschreibt. Wie oft lesen wir etwa über humanitäre Krisen auf dem afrikanischen Kontinent und können dennoch keine oder kaum eine emotionale Bindung zu den betroffenen Menschen aufbauen? Wie oft hören wir, dass „schon wieder“ hunderte Menschen auf ihrer Flucht nach Europa ums Leben gekommen sind und können uns deren Schicksal nicht vorstellen?

In ihrer Monografie Frames of War untersuchte die US-amerikanische Philosophin Judith Butler, wann ein Leben als „grievable“ gilt, also als würdig, um betrauert zu werden. Sie kam zum traurigen Schluss, dass manche Leben prekärer sind als andere. Oder zumindest als prekärer betrachtet werden. Ihr Buch ist ein Aufruf, diese Haltung zu ändern.

Keine Krise ohne Bild?

Wach gerüttelt werden wir erst, wenn wir eine konkrete Leidensgeschichte vor Augen haben, und wir uns wenigstens minimal mit dem „Anderen“ identifizieren können. Vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges in Syrien geschah das etwa, als das Foto des kleinen Jungen Omran Daqneesh um die Welt ging. Auf dem Bild sitzt er verstaubt und blutverschmiert in einem Krankenwagen und starrt mit toten Augen vor sich hin. Im Zuge der Migrationskrise war es das Foto des kleinen Alan Kurdi, der leblos am Strand liegt, fast wie eine Puppe, die vom Meer angespült wurde.

Es scheint als brauche jede Krise ihr Bild, ihre Geschichte, bevor sie ins Bewusstsein der Menschen rückt. Zumindest uns Menschen im Westen, die solche Geschehnisse nur aus einer sicheren Distanz beobachten und meistens wenig über die Verstrickungen unserer Regierungen in weit entfernten Konflikten und Katastrophen wissen.

Bürgerkrieg im Jemen

Im Jemen, dieser Republik im Süden der arabischen Halbinsel – einer politisch sowieso schon instabilen Region – hat es lange gedauert, bis ein solches Bild zirkulierte. Genauer gesagt ganze vier Jahre. Erst seit kurzem ist das Wort „Jemen“ in der internationalen Politik und den Medien in aller Munde. Was als Auseinandersetzung zwischen islamischen Glaubensrichtungen anfing, ist inzwischen zu einem internationalen Stellvertreterkrieg geworden. Mittendrin: Huthi-Rebellen im Jemen, der Iran und Saudi-Arabien. Die Waffen, die in diesem Krieg zum Einsatz kommen, stammen aber aus Europa und den USA.

Es scheint als brauche jede Krise ihr Bild, ihre Geschichte, bevor sie ins Bewusstsein der Menschen rückt. »

Vielleicht musste der Bürgerkrieg erst zu einem internationalen Konflikt werden, damit ihn der Westen beachtet. Mit Sicherheit spielte auch der Mord an dem saudiarabischen Journalisten und Regimekritiker Jamal Kashoggi eine Rolle. Da erst traute sich die internationale Gemeinschaft, Saudi-Arabien offen zu kritisieren. Und damit auch ihre Kriegsführung gegen die „Huthi“ im Jemen.

Fast 30.000 Menschen sollen seit Beginn des Krieges umgekommen sein. Rund 10.000 davon waren Zivilisten. Zur Zeit sind rund zwei Millionen Jeminiten auf der Flucht – also das Vierfache der Bevölkerung Luxemburgs.

Das Foto der kleinen Amal

Doch jetzt, vier Jahre nach dem Beginn des Bürgerkriegs, hat auch dieser ein Bild, ein Gesicht. Es ist das Foto der ausgehungerten Amal, eines siebenjährigen Mädchens, aufgenommen vom Fotografen Tyler Hicks. Sie besteht nur noch aus Haut und Knochen, die Haut faltig, die Augen glasig. Das Foto steht stellvertretend für vieles. Für Krieg und Verzweiflung, aber auch für die große Hungersnot der Bevölkerung.

Denn schon lange leiden die Jeminiten nicht nur unter Luftangriffen. Und schon lange sind die zivilen Opfer keine Kollateralschäden. Wie die « New York Times » schreibt, wo das besagte Foto erstmals erschienen ist, ist der Konflikt längst zu einem wirtschaftlichen Krieg geworden. Dass es den Jeminiten an der lebenswichtigen Grundversorgung fehlt, liegt nicht daran, dass es im Land an Nahrung und Lebensmitteln mangelt. Vielmehr wird den Einwohnern der Zugang dazu durch die von Saudi-Arabien geführte Koalition gezielt und bewusst verwehrt.

Von Facebook gelöscht

Es droht eine enorme Hungersnot. Die siebenjährige Amal ist nur eine von vielen. Und es bleibt zu hoffen, dass ihr Bild nicht nur für Entsetzen und Fassungslosigkeit sorgt, sondern auch zum Handeln bewegt. Die Hoffnung stirbt zuletzt, dass die Schriftstellerin Susan Sontag unrecht hat, wenn sie behauptet, dass Bilder von Leid und Elend lediglich abstumpfen.

Wir müssen Wege finden damit wir auch die Leben prekär ansehen, die uns nicht direkt betreffen. Wir müssen hinsehen. »

Stunden nach dem die « New York Times » den Artikel veröffentlichte und das Bild der kleinen Amal auf Facebook geteilt wurde, hat die Plattform die Beiträge gelöscht. Die Zeitung hat daraufhin eine Erklärung verfasst, wieso sie sich dazu entschieden hat, Amals Foto zu zeigen.

Die offizielle Begründung von Facebook lautete, dass das Mädchen auf dem Foto nackt sei. Doch es scheint eher so, als seien die Bilder zu schlimm, um hinzusehen, und man wolle die Facebook-Nutzer verschonen. Als wolle man dieser Realität lieber nicht ins Gesicht sehen.

Wir brauchen Bilder

Doch genau da liegt das Problem. Denn auch wenn wir nicht hinsehen, geht der Konflikt weiter. Wir brauchen die Bilder, die Geschichten. Wenn sie die Bedingung sind, dass wir uns für die Lage im Jemen interessieren, dann brauchen wir diese Bilder. Sind sie die Eingangstür zu einer politischen Diskussion, dann müssen sie zirkulieren.

Druck macht die internationale Politik erst, wenn sich die Öffentlichkeit für die Situation interessiert. Sei es durch den Tod eines Journalisten oder das Foto eines kleinen, ausgehungerten Mädchens. Das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass US-Außenminister Mike Pompeo sich jetzt für einen Waffenstillstand und für Friedensgespräche einsetzt – die Ironie dieser Handlung in Anbetracht US-amerikanischer Waffenlieferungen mal außen vorgelassen.

Judith Butler hat Recht. Wir müssen Wege finden, damit wir auch jene Leben prekär ansehen, die uns nicht direkt betreffen. Wir müssen hinsehen. Denn nur so lässt sich überhaupt über Menschenrechte und unnützes Leiden, Hungern und Sterben reden.

Nachtrag: Die siebenjährige Amal ist am Donnerstag in einem Flüchtlingscamp in Aslam an Mangelernährung gestorben. Sie wurde drei Tage zuvor aus dem Krankenhaus entlassen, um Platz für neue Patienten zu machen – das Krankenhaus war überfüllt.