Einmal im Jahr geben wir das Versprechen: « Nie wieder » ein Völkermord. Doch während wir der Opfer der Shoah gedenken, lebt die Ideologie dahinter weiter. Spätestens wenn unser Tischnachbar im Café den Holocaust als Farce bezeichnet, wird der Schwur zum leeren Versprechen. Ein Kommentar.

Es war ein ganz normales Essen mit Brüsseler Co-working-Kollegen. Einer von ihnen war Schotte, der andere Franzose. Der eine Anwalt, der andere Broker. Wir gingen ins Café nebenan, genossen die ersten Sonnenstrahlen und warteten auf unser Essen. Wir redeten über alles und jeden. Armut, Migration, Populismus, kurz: Über Themen, über die man zur Zeit in Europa eben so diskutiert.

Die Meinungen gingen auseinander. Das kommt vor. Doch irgendwann lief das Gespräch aus dem Ruder. Es ging um die „Weißen“, die heutzutage keine Rechte mehr haben sollen; um Migranten, die einen Genozid gegen Europäer vorbereiten würden; um den Mord an sechs Millionen Juden, der nie stattgefunden haben soll; um den Holocaust, der nichts als Propaganda sei. Der Mord an Juden: reine Illusion. Die Deutschen: die eigentlichen Opfer des Zweiten Weltkriegs. Das Essen wurde übrigens von Flüchtlingen serviert: Das Café ist ein Integrationsprojekt.

Ein längst gebrochenes Versprechen

Am Sonntag gedachte die Welt der Opfer des Holocaust, an denen manche nicht (mehr) glauben wollen. „Nie wieder“ hieß es, wie jedes Jahr, übereinstimmend in Politik und Presse; „Never again“-Posts überfluteten die sozialen Medien. Die zwei Wörter waren einst genug, um die Schrecken der systematischen Ermordung von Juden und anderen Minoritäten zu beschreiben. Die Gaskammern, die Konzentrationslager: „Nie wieder“ drückte all das aus, was sich eigentlich nicht in Worte fassen lässt. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg reichten Worte nicht mehr aus, um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Gräuel gegen „die Anderen“, zu beschreiben.

Wir stellen uns weiterhin gegen die ‘Anderen’, auch wenn diese ‘Anderen’ jetzt andere sind. »

Heute aber erscheinen die beiden Worte wie eine Farce. Kambodscha, Srebrenica, Ruanda, Myanmar …  Das Versprechen wurde so oft gebrochen, dass heute nichts mehr bleibt als eine leere Hülle. Und das Konstrukt der „Anderen“ lebt weiter.

Während wir einmal jährlich der Opfer gedachten, wurde Rechtspopulismus zum Mainstream. Der Hass gegen Minoritäten hat sich wieder etabliert. Empathie verkauft sich nicht mehr. Heute diskutieren wir über Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, als seien es bloß wertlose Schachfiguren. Wir beobachten, wie Antisemitismus ein „Comeback“ erlebt. Auch auf Luxemburger Wahlplakaten werden Politiker als Juden beschimpft.

Unsere eingefahrene Erinnerungskultur

Was bleibt von der systematischen Aufarbeitung der Vergangenheit? Ist die Erinnerungskultur gescheitert? Die jüngsten Statistiken scheinen genau dies zu bestätigen. Die Zahl der Menschen, die nichts oder wenig über die Shoah – geschweige denn über andere Völkermorde – wissen, nimmt zu. Die Zahl jener, die den Holocaust leugnen, ebenfalls. Mein Co-working-Kollege war keine Ausnahme. Wie der Journalist Arno Frank vor einigen Tagen schrieb: „Auschwitz hilft nicht, Auschwitz zu verhindern.“ Jedenfalls nicht mehr.

Auch die luxemburgische Geschichte hat dunkle Flecken, mit denen wir uns lieber nicht oder zumindest nicht dauerhaft beschäftigen wollen. »

„Erschöpfung und Langeweile kennzeichnen die Erinnerungskultur“, schrieb die deutsche Historikerin Aleida Assman bereits 2013. Für die jungen Generationen sei der Holocaust zu weit weg, nicht mehr greifbar, langweilig und „Geschichte“. Wir schaffen es demnach nicht, die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Und auch wenn „Geschichte“ sich nicht wiederholt, feiern bestimmte diskursive Muster gerade ihr Comeback. Der Holocaust mag Vergangenheit sein. Die Denkweise, die zum Völkermord geführt hat, ist es nicht. Wir stellen uns weiterhin gegen die « anderen », auch wenn diese « anderen » jetzt andere sind.

Während die letzten Überlebenden des Holocaust verschwinden, müssen wir uns auch hierzulande die Frage stellen, wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen. Reicht es, regelmäßig eine Kerze aufzustellen und Versprechen zu wiederholen, die wir nicht halten können? Reicht es, die jüdische Gemeinschaft einmal im Jahr zu Wort kommen zu lassen? Oder wissenschaftliche Berichte in Auftrag zu geben, die nach wenigen Wochen wieder in der Schublade verschwinden?

Der Holocaust darf nicht nur Geschichte sein

Zur Vergangenheitsbewältigung gehört auch ein kritisches Hinterfragen der Geschichte. Wie schwer uns das fällt, zeigt nicht zuletzt unser Umgang mit den „comptes dormants“ oder die Reaktionen auf den Artuso-Bericht. Auch die luxemburgische Geschichte hat dunkle Flecken, mit denen wir uns lieber nicht oder zumindest nicht dauerhaft beschäftigen wollen. Und so glauben wir lieber daran, dass wir anders waren als unsere Nachbarn und wehren uns damit bis heute gegen eine wirkliche, generationsübergreifende und selbstkritische Debatte.

Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass der Holocaust eben nicht nur ‘Geschichte’ ist. Die Worte ‘Nie wieder’ müssen wieder eine Bedeutung haben. »

Die « alte Denkweise » hat unsere Welt nie verlassen. Wir reden zwar nicht mehr von Rassen. Doch es heißt an vielen Orten immer noch « wir » gegen « die anderen ». Zudem verpassen wir es, die Parallelen zu erkennen und konkrete Bezüge zu Geschehenem herzustellen. Ehe wir uns versehen, sprechen wir über Genozide an „Weißen“, während uns Migranten unser Essen servieren. Während die letzten Zeitzeugen sterben, debattieren wir darüber, ob die von ihnen erlebte Geschichte eine Illusion war.

Wir müssen an die Verbrechen und die Gräuel der Shoah erinnern, und zwar nicht nur ein Mal im Jahr, sondern zur Not andauernd. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass der Holocaust eben nicht nur „Geschichte“ ist. Die Worte „Nie wieder“ müssen wieder eine Bedeutung haben. Solange wir in einem Café im Herzen Europas ernsthaft darüber diskutieren müssen, ob es den millionenfachen Mord an den Juden gegeben hat, ist die Erinnerungskultur gescheitert.