In der Debatte um die Zukunft der EU kommt oft die Frage einer gemeinsamen Identität auf. Doch dieser klassische Diskurs unterliegt einem Denkfehler. Denn die Suche nach einem europäischen Wir-Gefühl fördert letztlich auch die Ausgrenzung. Ein Kommentar.

Gibt es so etwas wie eine europäische Identität? Im Vorfeld von Europawahlen rückt diese Frage immer wieder in den Mittelpunkt. Pro-europäische Parteien sprechen sich für eine stärkere Integration aus. Politiker setzen auf Bürgernähe. Die sonst als Inbegriff der Bürokratie verschriene Europäische Kommission versucht mit positiver politischer PR ihr Image aufzupolieren.

In diesem Jahr wirbt die EU-Kommission mit dem Slogan « The EU and Me ». Beim Spitzenkandidat der EVP und möglichen nächsten Kommissionspräsidenten, Manfred Weber, ist es gar: „The power of We“. Die Botschaft lautet: In Brüssel sitzen keine realitätsfernen Bürokraten, die den Blick für die Sorgen der Bürger verloren haben. Nein, in Brüssel trifft man Entscheidungen, die alle betreffen und die das europäische Projekt zum Wohle aller Europäer vorantreiben.

Doch wer oder was ist dieses « wir »? Kann es ein europäisches Gemeinwohl überhaupt geben? Was verbindet die Europäer zu dieser suggerierten homogenen Gruppe, in der sich jeder mit der Idee eines gemeinsamen Europas identifizieren kann?

« Nie wieder Krieg » reicht nicht mehr aus

Die EU hat es jahrzehntelang versäumt, Antworten auf diese Fragen zu liefern. Auch deswegen, weil es diese Antworten gar nicht gibt. Durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges legitimierte sich das Projekt eines vereinten Europas quasi von selbst. Das gemeinsame Wir-Gefühl entstand durch die geteilten Erfahrungen von Krieg und Zerstörung. « Nie wieder Krieg in Europa »: Das reichte lange aus, um die Menschen zu vereinen.

Doch das Problem ist tiefgründiger. Denn weder haben diese Erfahrungen heute noch Bestand, noch reichen sie als Gründungsmythos aus. „Moral war noch nie ein politisches Programm“, schreibt Robert Menasse in seiner Europasatire « Die Hauptstadt ». Eine europäische Identität lässt sich heute damit nicht mehr zementieren, weil es so etwas wie eine alle Zeiten überdauernde Identität gar nicht gibt.

Abstrakte Symbolik macht noch keine Identität

Die meisten jungen Europäer haben keinen Krieg erlebt, kennen nur die Idee des Friedens. 74 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs reicht es also schlicht nicht aus, sich weiterhin auf die Ursprünge der EU zu besinnen. Denn diese haben mit der gelebten Realität der heutigen EU-Bürger kaum etwas gemein.

Jahrzehntelang haben es die pro-europäischen Kräfte versäumt, eine gemeinsame Erzählung zu schreiben, die über die Gründerzeit der EU hinausgeht. Doch vielleicht muss man auch einfach feststellen, dass es dieses übergeordnete, für alle Europäer überzeugende Narrativ nicht gibt.

Der Brand der Notre-Dame-Kathedrale in Paris hat für viele gezeigt, dass kulturelle Symbole daran erinnern können, dass Europa mehr ist als eine technokratische Wirtschaftsunion. Doch sind solche Symbole stark genug, um den Menschen den Glauben an ein gemeinsames Europa wieder zurückzugeben? Oder symbolisieren sie eher ein abstraktes Gemeinschaftsgefühl, das nicht dazu geeignet ist, dem europäischen Projekt konkret neue Glaubwürdigkeit zu verleihen?

Die Kehrseite der europäischen Identitätssuche

Aktuell besteht die Suche nach einer gemeinsamen Identität aber auch darin, sich von Populismus und Nationalismus abzugrenzen. Ähnlich wie bei der Identitätsdebatte im luxemburgischen Wahlkampf, handelt es sich dabei aber nicht um eine substanzielle Debatte über die europäische Identität. Eine pro-europäische Einstellung wird nur selten mit stichhaltigen Argumenten begründet. Sie dient meistens als Selbstzweck, um sich gegen die Fundamentalkritiker der EU zu wehren.

Die Beschwörung eines Gemeinschaftsgefühls ist so oft auch ein Versuch, den Verlust der eigenen Glaubwürdigkeit zu maskieren. Dass Brüssel sich vor Wahlen ein bürgernahes Branding verpassen will, deutet auf ein schlechtes Gewissen hin. Dass Politiker auf einmal etwas nachholen wollen, was sie jahrzehntelang verpasst haben, hat für aufmerksame Bürger eher eine abschreckende Wirkung.

Identität als Ausgrenzungsmechanismus

Zudem ist das Risiko groß, dass diese verzweifelte Suche nach einer gemeinsamen Identität zur Ausgrenzung beiträgt. Das Problem: Eine gemeinsame Identität beruht immer auch auf Exklusion, auf der Abgrenzung von jenen, die eben nicht dazu gehören.

Die Konstruktion einer europäischen Identität könnte so genau den gleichen Effekt haben wie der wiederauflebende Nationalismus, gegen den man sich ja eigentlich wehren will. Manfred Webers „The Power of We“ ist wohl der letzte Auswuchs dieses Dilemmas. Allein dieser Slogan präsentiert Europa als einen exklusiven Club, zu dem man gehört – oder eben nicht.

Die Idee einer statischen, homogenen europäischen Gemeinschaft, beruht denn auch auf einem Denkfehler. Denn die homogene Gruppe, mit der sich jeder oder auch nur die große Mehrheit der Europäer identifizieren kann, gibt es nicht. Europa ist eine heterogene Masse von Menschen und Identitäten, die zwar einiges gemeinsam haben, die aber auch etliche Dinge voneinander unterscheiden. Dessen Zusammensetzung sich stets verändert. Es ist ein Sammelsurium von unterschiedlichsten Identitäten, die sich gegenüberstehen.

Genau das könnte aber die moderne Erzählung des europäischen Projektes sein. Die EU ist kein einheitlicher Block, sondern gelebte Pluralität. Der Fehler liegt darin, diese Pluralität zum Wohle einer gemeinsamen Identität aufheben zu wollen, statt sich darauf zu berufen.


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