Die EU-Staaten werden jedes Jahr von kriminellen Gruppierungen um 50 Milliarden Euro betrogen. Eine Lösung der Europäischen Kommission, um den Steuerbetrug zu stoppen, liegt schon länger auf dem Tisch. Doch die Regierungen sträuben sich – auch Luxemburg.

40 Milliarden Euro an Steuereinnahmen zusätzlich – das Angebot machte die Europäische Kommission den Mitgliedsstaaten bereits 2017. Eigentlich nichts, was man ablehnen könnte, denkt man. Doch seitdem haben die 28 Finanzminister noch nicht mal ernsthaft darüber diskutiert. „Unser Vorschlag könnte nicht einfacher sein“, sagte EU-Steuerkommissar Pierre Moscovici im ZDF-Interview. „Die Minister könnten das in zwei Stunden absegnen“, so der Franzose sichtlich genervt. Was ist da los?

Mit einer grundlegenden Reform des EU-Mehrwertsteuersystems könnte der Schaden durch Betrug um 80 Prozent verringert werden, verspricht die Kommission – statt heute 50 Milliarden Euro Verlust, „nur“ noch 10 Milliarden. Der Vorschlag eines endgültigen Systems ab 2022 soll die Schwächen des Provisoriums ausmerzen, das seit 25 Jahren in Kraft ist.

„Der Betrug ist moralisch und ethisch inakzeptabel“, sagt Pierre Moscovici in Reaktion auf Grand Theft Europe – eine europäische Recherche, koordiniert durch das Recherchezentrum CORRECTIV.

Die Idee der Kommission, um den Betrug zu verhindern: Es sollen die gleichen Regeln gelten, ob ein Unternehmen nun mit einem Geschäftspartner im gleichen oder in einem anderen EU-Land Handel betreibt. Bisher sind grenzüberschreitende Geschäfte von der Mehrwertsteuer befreit. Die Folge: Mit der Reform würde die Lücke verschwinden, die Karusselbetrüger ausnutzen (siehe Video). Doch bei der Lösung gibt es mehrere Haken, die gerade für Luxemburg problematisch sind.

Luxemburg würde zum Tummelplatz für Betrüger

Laut dem Vorschlag der Kommission müsste ein Luxemburger Unternehmen die dänische Mehrwertsteuer auf seiner Lieferung für eine dänische Firma erheben. Das Geld ginge dann an die hiesige Verwaltung, die es dann an Dänemark weitergibt.

Die Experten sind sich einig: Der Brüsseler Vorschlag würde den Betrug entschärfen aber nicht komplett stoppen. Der merkliche Unterschied: Die neue Masche würde auf Firmen in Ländern mit niedriger Mehrwertsteuer setzen – unter anderem Luxemburg. Das erklärt der US-Professor Richard Ainsworth in einer Studie.

Der neue Trick ginge so: Der luxemburgische Händler steckt die Differenz ein zwischen der Mehrwertsteuer, die er bezahlt (17 Prozent) und der dänischen (25 Prozent), die er erhebt. Bevor die Steuerverwaltung in Dänemark das merkt, verschwindet die Luxemburger Firma und wird zum „missing trader“. Bisher sind diese „fehlenden Händler“ in Ländern mit hoher TVA angesiedelt.

Damit bleibt der Ursprung des Karusselbetrug dann trotzdem bestehen.“Stellungnahme des Finanzministeriums

Da Luxemburg in der gesamten EU den geringsten Mehrwertsteuersatz hat, würden die Betrüger im neuen System hierzulande den größten Gewinn machen. Nicht nur würde das unangenehme Zeitgenossen nach Luxemburg ziehen. Die hiesigen Behörden müssten ermitteln, um die Steuer einzutreiben, die anderen Länder zusteht. Kurz: Der luxemburgische Staat hätte die Kosten, aber sonst nichts.

Das fehlende Vertrauen

Es ist der größte Haken des Brüsseler Vorschlags: Die anderen Mitgliedsstaaten müssten Luxemburg vertrauen, dass die Behörden das Geld für sie eintreiben, egal wie hoch der Aufwand. Genau danach sieht es nicht aus.

Das zweite Problem: Die Kommission schlägt ein doppeltes System vor. Für Firmen, die als vertrauenswürdig eingestuft werden (« certified taxable person »), würden die aktuellen Regeln weiter gelten – also keine Steuer auf Handel zwischen zwei Ländern. „Damit bleibt der Ursprung des Karusselbetrug dann trotzdem bestehen“, lautet die eindeutige Kritik aus dem luxemburgischen Finanzministerium.

Der Übergang zum endgültigen Mehrwertsteuersystem wird sehr schwierig werden.“Erwan Loquet, Experte für Steuerrecht

„Auch in diesem Punkt braucht es ein sehr hohes Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten“, schreiben die belgischen Experten Marie Lamensch und Emanuele Ceci. Denn es werde nicht völlig transparent sein, wie die Länder die Vertrauenswürdigkeit definieren oder prüfen.

„Es gab mindestens 14 Versuche in der EU den Karussellbetrug zu stoppen. Das scheiterte immer wieder am fehlenden Vertrauen“, erklärt Richard Ainsworth in der ZDF-Dokumentation. Genau daran könnte auch der Vorschlag der Kommission scheitern, glaubt die Brüsseler Professorin Marie Lamensch.

Mehr Aufwand für Unternehmen

Die Experten bezweifeln, dass der Vorschlag der Kommission überhaupt eine Chance hat. Dabei hilft nicht, dass das neue System für die Unternehmen komplizierter wäre. Es ist der Hauptkritikpunkt der luxemburgischen Regierung: Es sei komplex, zwischen den Geschäftspartner zu unterscheiden, die als vertrauenswürdig zertifiziert sind und den anderen.

„Der Übergang zum endgültigen Mehrwertsteuersystem wird sehr schwierig werden“, sagt auch Steuerexperte und Partner des Beratungsunternehmens BDO, Erwan Loquet. Ein luxemburgisches Unternehmen, das seine Ware nach Italien liefert, müsste dann wissen, wie das Produkt dort besteuert wird. Das ist nicht einfach, denn oft gilt eine reduzierte Steuer auf einem Produkt in einem Land, aber nicht im anderen.

Auch eine Studie der Europäischen Kommission kommt zum Schluss, dass mit der Reform besonders auf kleine Unternehmen mehr Kosten zukommen würden – bis zu 15 Prozent im ersten Jahr nach Einführung. In Luxemburg gilt das besonders, weil die Unternehmen oft auf den Export angewiesen sind. Große Konzerne würden dagegen massiv sparen.

Die technologische Lösung: eine TVA-Währung

Die Hauptprobleme im Kampf gegen den Karusselbetrug sind das Misstrauen zwischen den Staaten und der Fakt, dass die Verbrecher mit ihrer Masche bares Geld aus den Staatskassen erhalten. Für beide hat der US-Professor Richard Ainsworth eine radikale Lösung vorgeschlagen: eine digitale Währung.

Der sogenannte „VATCoin“ wäre eine eigenständige Währung, die aber ausschließlich zum Bezahlen der Mehrwertsteuer dient. Alle Transaktionen wären in einem Register, also einer Blockchain, verzeichnet und demnach für alle Staaten einsehbar. Das würde das Vertrauensproblem zwischen den Ländern lösen.

Der entscheidende Vorteil: Egal, wie sie sich anstellen, würden die Betrüger nur VATCoins und kein Cash auf ihr Konto erhalten. Sprich, sie könnten nichts von dem kaufen, was ihnen heute Spaß macht: keine teuren Autos, keine Luxus-Villen, kein Jetset-Leben.


Das Projekt Grand Theft Europe

Für das Rechercheprojekt ​Grand Theft Europe​ hat sich REPORTER mit 35 vom Recherchezentrum CORRECTIV koordinierten Medienpartnern aus ganz Europa vernetzt. Gemeinsam hat das Netzwerk Umsatzsteuerkarusselle durchleuchtet, den größten laufenden Steuerbetrug in der EU. Die Recherche hat zu zahlreichen Artikeln, einem Podcast und mehreren TV-Dokumentationen geführt. Beteiligt waren unter anderem ZDF und CORRECTIV aus Deutschland, „Libération“ aus Frankreich, „De Tijd“ aus Belgien und „Republik“ aus der Schweiz.

Die Stories bei REPORTER:

Steuerbetrug in Milliardenhöhe: Grand Theft Europe

Luxemburgs Rolle im großen Steuerraub: Kriminelle Energie

Es begann in Beckerich: Die Karriere eines Steuerbetrügers

Mehr zum Projekt: 

www.grand-theft-europe.com

Das Dossier zu Grand Theft Europe