Wie entkommt man dem journalistischen « Mainstream »? Wie lässt sich durch das Schreiben die Welt verändern? Die Journalistin Charlotte Wiedemann über Auslandsjournalismus jenseits von Vorurteilen und « großen Erzählungen ».
Das Interview führte Marian Brehmer.
REPORTER: Worin sehen Sie die größte Problematik im deutschsprachigen Auslandsjournalismus?
Charlotte Wiedemann: Es gibt im Auslandsjournalismus gerade heute viele Tendenzen, die eine gleichmachende Wirkung haben. Mit anderen Worten: Viele Journalisten erlauben sich keinen individuellen Blick mehr. Sie leihen sich eine vermeintliche Objektivität, die man besser „den Mainstream“ nennt. Dieser Mechanismus wird auch als „Framing” bezeichnet, die Wahl eines bestimmten Ausschnitts, was dazu führt, dass alle anderen Perspektiven außer Acht gelassen werden. Diese Art von Mainstreamjournalismus ist bequem, denn nicht der Mainstream muss sich rechtfertigen, sondern nur was jenseits davon ist.
Was machen Sie anders?
Journalisten sind stets auf der Jagd nach etwas „Exklusivem”. Ich persönlich will nicht nach einem exklusiven Thema suchen müssen, das ich dann geheim halte, schnell bearbeite und gut platziere, um es an die große Glocke zu hängen. Ich habe einen anderen Ansatz von Exklusivität. Meine Texte sollen gut sein, möglichst besser als andere, und sie sind aus meiner ganz persönlichen Sichtweise verfasst. Mein Blick auf die Welt ist exklusiv – genauso wie natürlich der Blick jedes anderen Reporters exklusiv ist.
Es gibt in unserem Auslandsjournalismus viele, die nicht schreiben, was sie denken, sondern Texte produzieren, um die Erwartungen ihres Chefredakteurs zu erfüllen. »
Wie gehen Sie typischerweise bei Ihren Recherchen vor?
Um dem Framing zu entkommen, benutze ich zur Vorbereitung selten die journalistischen Produkte anderer. Stattdessen verwende ich wissenschaftliche Quellen oder Online-Informationsportale aus den jeweiligen Ländern. Natürlich darf man keiner Quelle allein vertrauen. Auf Reportagereisen schreibe ich möglichst jeden Abend meine Notizen ins Reine, sortiere sie und überprüfe, was noch fehlt. Dabei fällt mir vieles ein, was ich bei den Gesprächen nicht niedergeschrieben habe. Ich unterziehe meine Arbeit also einer ständigen Selbstkontrolle. Am Ende der Reise habe ich haufenweise Notizen, die Teil meines Archivs werden, auf das ich später wieder zurückzugreifen kann, zum Beispiel beim Bücherschreiben.
Zur Person
Charlotte Wiedemann, Jahrgang 1954, ist Journalistin und Autorin. Als Korrespondentin hat sie in den letzten zwanzig Jahren zahlreiche muslimisch geprägte Länder bereist und dabei immer wieder die Mechanismen des westlichen Auslandsjournalismus hinterfragt. Ihre Texte sind unter anderem erschienen in « Le Monde diplomatique », « Die Zeit », « NZZ » oder « taz ». In 2018 erschien eine erweiterte Neuauflage ihres Buchs « Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt ».
Manche sehen mangelnde Journalistenhonorare als Grund für den Qualitätsverfall des Auslandsjournalismus. Wie beurteilen Sie das?
Vor einigen Jahren gab es noch größere Etats für Auslandsreportagen. Redaktionen waren stärker davon überzeugt, dass es sich lohnt, Schreiber mit Erfahrung und Ausbildung ins Ausland zu schicken und nicht etwa auf Blogger zu vertrauen. Heute gibt es jedoch viel mehr Möglichkeiten, sich auf Eigeninitiative zu informieren und zu vernetzen. Insgesamt hat das eher zu einer Entprofessionalisierung des Auslandsjournalismus geführt. Zum Teil wird die Berichterstattung von Stiftungen übernommen. Man wird ja zurzeit praktisch zugeschüttet mit Berichten über die muslimischen Länder. Das kann niemand alles lesen. Dies soll aber nicht heißen, dass darunter nicht auch sehr gute Texte, aber eben keine journalistischen Produkte sind.
Der Auslandsjournalismus wird einerseits finanziell ausgeblutet, andererseits interessieren sich viele junge Menschen schon zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn dafür. Es kämpfen mehr Menschen um einen kleiner werdenden Kuchen. Die verschärfte Konkurrenz führt dazu, dass sich die Schreiber gegenseitig unterbieten und dadurch das ganze Niveau immer weiter herunterziehen. Das ist freilich nicht die Schuld des Einzelnen, aber führt in der Summe zu einer verhängnisvollen Entwicklung.
Gerade in der Berichterstattung über muslimische Länder ist man beständig Teil der aktuellen Ost-West-Auseinandersetzung, dieser zum Teil vollkommen absurden Polarisierung. »
Worin liegt für Sie persönlich der Wert des Auslandsjournalismus?
Die Zeit, die ich im Auslandsjournalismus gearbeitet habe, habe ich im Vergleich zu meinen Jahren im Inlandsjournalismus als viel befriedigender empfunden. Das gilt vor allem für die islamische Welt. Hierzulande werden Journalisten oft als Störenfriede empfunden. In den Ländern hingegen, die ich bereise, wird mir oft großes Vertrauen entgegengebracht. Dabei schwingen aber auch hohe Erwartungen mit. Was ich letztendlich mit einem Artikel bewegen kann, ist daran gemessen sehr gering.
Sehen Sie sich in Bezug auf die islamische Welt in einer Vermittlerrolle?
Gerade in der Berichterstattung über muslimische Länder ist man beständig Teil der aktuellen Ost-West-Auseinandersetzung, dieser zum Teil vollkommen absurden Polarisierung. Man ist ständig Teil von Bemühungen, irgendwie Verständnis herzustellen. Aber trotz engagierter Journalisten und vieler intelligenter anderer Stimmen, etwa von Islamwissenschaftlern, gibt es bei uns eine sehr fest verankerte Islam-Skepsis bis zum Islamhass. Da kann ich noch so viele Reportagen schreiben. Manchmal begegne ich formell gebildeten Lesern, die mich fragen, ob Islam und Islamismus nicht das gleiche sei. Aufklärung ist immer schwieriger als Verdummung.
Ich bin davon überzeugt, dass sich beim Schreiben am besten differenzieren lässt. »
Wo sind diese Vorstellungen denn beheimatet? In den Redaktionen oder beim Leser?
Es gibt in unserem Auslandsjournalismus viele, die nicht schreiben, was sie denken, sondern Texte produzieren, um die Erwartungen ihres Chefredakteurs zu erfüllen. Ich würde das die „Schere im Kopf“ nennen. Dies ist nicht die Schere eines Informationsministeriums, wie in vielen Teilen der Welt, sondern eine Mischung aus geistiger Bequemlichkeit beim Ausarbeiten der journalistischen Produkte und einer Angst, sich aus dem Schutz des Mainstreams hervorzuwagen. Es geht gar nicht so sehr um den Leser. Viel wichtiger sind die Vorurteile, die in Redaktionen herrschen. Und es ist für eine freie Autorin nicht immer einfach, die Reflexe des Redakteurs, der deinen Text in Empfang nimmt, zu überwinden.

Wie überzeugen Sie dann die Redaktionen davon, eine „Gegenerzählung“ abzudrucken?
Das Wort „Gegenerzählung“ ist mir zu groß, zu anmaßend. Will man jedoch etwas jenseits der „großen Erzählungen“ schreiben, so darf man nicht diskutieren, sondern muss es einfach machen. Natürlich kündige ich in den Redaktionen nicht an, dass ich etwas abseits des Mainstreams schreiben möchte, sondern ich mache es einfach.
Meine Anpassungsbereitschaft war schon zu Beginn meiner journalistischen Laufbahn nicht sehr ausgeprägt. Ich habe ein starkes Bewusstsein dafür, dass diese Welt verändert gehört. »
Was meinen Sie mit „großen Erzählungen“?
Ich will ein Beispiel geben, das in der Berichterstattung über den so genannten arabischen Frühling verstärkt aufgetaucht ist: Man war der Meinung, die arabischen Revolutionen seien ganz stark von Frauen vorangetrieben worden. Kurz danach jedoch konnte man dann überall lesen, dass die Frauen nun wieder unterdrückt würden. Das ist klassisch: Die eine Übertreibung zieht die nächste nach sich. Natürlich sind die Revolutionen auch von Frauen angeführt worden, aber man kann nicht sagen, dass sie immer überall in der ersten Reihe gestanden hätten. Wenn man erst mal die erste Übertreibung gemacht hat, lässt sich gleich die nächste Geschichte über die Unterdrückung hinterherschieben. In beiden Fällen würde ich für mehr Differenzierung plädieren. Man kann sich diesen Mechanismus auch als eine Kameraeinstellung vorstellen, die bestimmte Dinge aus ihrem Kontext herausreißt. Ich bin davon überzeugt, dass sich beim Schreiben am besten differenzieren lässt. Deshalb bin ich 35 Berufsjahre lang beim Schreiben geblieben.
Was für Reaktionen erhalten Sie in den Redaktionen auf Ihre Texte?
Zunächst einmal gilt: Je besser ein Text vom Autor, von der Autorin selbst redigiert wurde, desto weniger Angriffsfläche bietet er. Über eine Iran-Reportage von mir meinte einmal ein Redakteur, ich würde „mit liebenden Augen“ durch die Region reisen. Das war als Vorwurf gemeint. Jeder Frankreich-Korrespondent ist ein Frankreich-Liebhaber und lebt bis zu seinem Ruhestand davon Frankreich-Liebhaber zu sein und Bücher darüber zu schreiben. Das ist kulturell und professionell akzeptiert. Aber mit liebenden Augen durch Iran zu reisen, wird als ein Manko verstanden.
Die Iraner etwa lieben es, mit Dichterzitaten zu reden. Ich kam sehr poetisiert von meiner ersten Iran-Reise zurück, was nicht unbedingt schlecht für die eigene Sprache ist. „Ihre Sprache ist zu poetisch“, hieß es dann aus der Redaktion. Über den Iran schreibt man schließlich in den Termini der Atomdebatte, im Vokabular der Krisenmanager. Mit solch einem Widerstand muss man lernen umzugehen. Im Endeffekt wurde dann aber auch diese Reportage kaum geändert. Meine Anpassungsbereitschaft war schon zu Beginn meiner journalistischen Laufbahn nicht sehr ausgeprägt. Ich habe ein starkes Bewusstsein dafür, dass diese Welt verändert gehört. Ich hatte immer das Bedürfnis, mich durch meinen Journalismus auch selbst auszudrücken. In jüngerer Zeit tue ich das vor allem durch Bücher.