Das Telefon steht nicht still. Ein Beratungsgespräch folgt dem nächsten, Alexander Marcus hat viel zu tun. Der Schulanfang steht bevor und besonders für Kinder mit speziellen Bedürfnissen ist die Vorbereitung nicht einfach. Der Kinderpsychiater wünscht sich individuelle Lösungen.

Interview: Janina Strötgen

Herr Marcus, welche Auswirkungen haben Lockdown, sich ständig verändernde Sicherheitsmaßnahmen und eine ungewisse Zukunft auf Ihre Patienten?

Es ist sehr schwierig, allgemeine Einschätzungen zu geben. Die Pandemie hat uns jedoch unglaubliche Einblicke in die Auswirkungen unterschiedlicher Umgebungsbedingungen auf das Verhalten der Kinder ermöglicht. Soll ich dem Virus dafür dankbar sein? Natürlich nicht.

Teilen Sie die Einschätzung, dass Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung zunächst einmal von den veränderten Bedingungen im Lockdown profitierten?

Ja. Während dieser Zeit mussten sie keinen sozialen Stress durch gruppendynamische Prozesse in der Klassengemeinschaft oder im Schulbus erleben. Sie wurden nicht mehr Opfer von Mobbing. Sie konnten sich auf den Lernstoff konzentrieren und machten enorme Lernfortschritte. Natürlich nicht bei sozialen Fähigkeiten. Gerade hatte ich ein Videomeeting mit einem sehr lieben Jungen mit Autismus-Spektrum-Störung. Ich fragte ihn, ob er seine Klassenkameraden vermisst habe. Er antwortete, nein, überhaupt nicht, ich hatte ja meine Lehrer.

Wie haben Sie die Wiedereröffnung der Schule im Mai erlebt?

Die Lockerungsphase war eine enorme Herausforderung. Der Wechsel zwischen Präsenzunterricht und Unterricht zu Hause führte zu einer Überforderung. Viele kamen mit den Umstellungen und den Hygieneregeln nicht klar. Das Problem ist, dass Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung häufig eigene Normen haben oder spontan individuellen Bedürfnissen folgen. Da sind Maske und Abstand drittrangig. Dadurch gefährden sie sich und andere Personen.

Zur Person

Alexander Marcus kümmert sich vor allem um Kinder, die an einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden oder um Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASD). Als beratender Arzt arbeitet er auch für den SCAP, der « Beratungs- und Unterstützungsstelle bei Störungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung und der psychomotorischen Entwicklung ».

Wozu haben Sie betroffenen Eltern geraten?

Bis auf wenige Ausnahmen schienen viele Kinder völlig überfordert. Deshalb habe ich oft von einer Teilnahme am Präsenzunterricht abgeraten und ein entsprechendes Zertifikat ausgestellt. Im Hinblick auf den kommenden Schulbeginn sehe ich die gleichen Probleme. Bei stärker betroffenen Kindern rate ich dazu nachzufragen, ob eine weitere Teilnahme durch Online-Unterricht möglich wäre. Das ist wohl in besonderen Fällen tatsächlich möglich und auch sinnvoll.

Wie sieht Ihre Vision für die bestmögliche Inklusion in Bildungsstrukturen aus?

Es gilt, sich die Bedürfnisse eines jeden Kindes mit einer entsprechenden Verdachtsdiagnose genau anzuschauen. Es kommt nicht auf die Diagnose allein an, sondern auf die Beeinträchtigungen, die damit verbunden sind. In vielen Fällen ist eine Inklusion möglich, doch nicht um jeden Preis. Man muss sehen, ob das Kind nicht hoffnungslos überfordert und seine sozial-emotionale Entwicklung gefährdet ist. Man darf aber auch die Lehrer mit der Problematik nicht alleine lassen. Je nach Art der Beeinträchtigung müsste einem Lehrer eine kompetente Hilfe zur Seite gestellt werden. In Krisen sollte es möglich sein, das Kind aus der Klasse zu nehmen.

Wo steht Luxemburg in der Frage nach Inklusion im Schulsystem heute?

Ich sehe eine recht gute Entwicklung in Luxemburg. Im Vergleich zu dem Zustand vor 15 Jahren hat sich viel getan. Luxemburg ist auf einem guten Weg, aber man ist sicher noch nicht dort, wo man hinkommen möchte. Und wenn man dort ist, muss es wieder ein neues Ziel geben.


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