Entgegen weit verbreiteter Annahmen ist den Afghanen die Demokratie nicht fremd. Das zeigt nicht zuletzt die Erfahrung der jüngsten Wahlen. Ein Gespräch mit dem Afghanistan-Experten Emran Feroz über die Schieflagen in der europäischen Wahrnehmung des Landes.

Interview: Marian Brehmer

Wie haben Sie als in Österreich geborener Afghane die Wahrnehmung des Heimatlandes ihrer Eltern erlebt?

In meiner Kindheit in den neunziger Jahren konnte ich mir nicht viel unter Afghanistan vorstellen. In meinem Heimatort in Österreich gab es keine afghanische Community, so wie es etwa eine türkische oder eine arabische gab. Das einzige, was ich über Afghanistan wusste, war, dass dort seit langem Krieg herrschte. Erst mit dem 11. September wurde Afghanistan plötzlich zum großen Thema. Es gab sogar Menschen, die es feierten, dass Amerika eine Militärintervention in Afghanistan begonnen hatte. In meinem Umfeld dachten die meisten, Osama bin Laden sei Afghane. Aus dem Bauch heraus wehrte ich mich damals gegen die Tatsache, dass nun dort ein Krieg begonnen wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurden in mir die Samen gesät, die später in meinem Schreiben aufgehen würden. Heute versuche ich, die komplexen Zusammenhänge der Geschichte und Politik Afghanistans in europäischen Medien zu vermitteln.

Wo ist denn das Afghanistan-Bild, das uns hierzulande vermittelt wird, am verzerrtesten?

Es gibt durchaus kenntnisreiche Stimmen im deutschsprachigen Raum, wie etwa Thomas Ruttig vom « Afghan Analysts Network ». Vieles jedoch ist recht undifferenziert. Ein gängiges Klischee ist etwa die Mär von der Frauenbefreiung. Dabei wird häufig der Eindruck erweckt, vor den Taliban sei alles perfekt gewesen. Dann kamen die NATO-Truppen und haben den Schrecken der Taliban beendet und die Frauen befreit. Dabei wird gerne vergessen, dass es vor den Taliban bereits Gruppierungen gab, die Frauen unterdrückt haben und eklatante Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Irreführend sind auch die alten Bilder aus dem Kabul der siebziger und achtziger Jahre. Oft werden moderne Straßenszenen gezeigt, die den Eindruck erwecken, in Afghanistan sei damals alles liberal gewesen. Dabei wird vergessen, dass Afghanistan zu jener Zeit eine kommunistische Diktatur war. Mit ihren Folterkellern, in denen Zehntausende Afghanen umkamen, war diese gar nicht so anders als etwa das heutige Assad-Regime in Syrien.

Präsident Ghani hat lange Zeit in den Vereinigten Staaten gelebt und verschanzt sich gerne hinter seinem Schreibtisch. »

Die allermeisten der westlichen Journalisten, die über Afghanistan berichten, tun dies aus Kabul. Wie sehr lässt sich Afghanistan von dort aus eigentlich verstehen?

Es gibt in Kabul durchaus viele interessante Geschichten. Angesichts der miserablen Sicherheitslage ist es mit vielen Risiken verbunden, dort zu leben. Doch viele der Reporter, auch afghanische, bewegen sich nur selten aus Kabul hinaus. Statt in die Provinzen direkt zum Ort des Geschehens zu reisen, versuchen Journalisten zum Beispiel nach Luftangriffen, die Betroffenen nach Kabul zu bringen — wenn sie überhaupt mit ihnen sprechen. Es entsteht eine Schieflage: Passiert ein Anschlag in Kabul, so wird in kürzester Zeit darüber berichtet. Von Drohnenangriffen oder Opfern afghanischer Militäroperationen auf dem Land hört man jedoch nur sehr verkürzt oder gar nicht. Selbst Journalisten, die sich als Afghanistan-Kenner ausgeben, wissen oft erschreckend wenig vom Leid in den ländlichen Regionen. Manchmal erklären mich Kollegen in Kabul für verrückt, wenn ich ihnen erzähle, dass ich in die Provinzen reisen möchte. Die Vernachlässigung der Provinzen findet natürlich nicht nur im Journalismus statt, sondern wir können sie auch auf politischer Ebene beobachten.

Emran Feroz
Emran Feroz (Foto: Privat)

Der afghanische Präsident wird manchmal lapidar als « Bürgermeister von Kabul » bezeichnet. Amtsinhaber Ashraf Ghani wird vorgeworfen, er sei ein realitätsferner Technokrat und wisse wenig von den wirklichen Zuständen in seinem Land. Wie sehen Sie das?

Ghani gilt unter seinen Anhängern als jemand, der die afghanische Wirtschaft vorangetrieben hat. Doch in den letzten fünf Jahren sind zahlreiche Regionen in ihrer Entwicklung sträflich vernachlässigt worden. Dort wo Krieg herrscht, wurde nicht investiert. Es gibt zudem Berichte, dass die Armut in der Amtszeit Ghanis eklatant zugenommen hat. Zur Person selbst muss man sagen: Er hat lange Zeit in den Vereinigten Staaten gelebt und verschanzt sich gerne hinter seinem Schreibtisch. Bei Wahlkampfveranstaltungen in den Provinzen, auch wenn sie in der Nähe von Kabul liegen, wurde er mehrmals per Liveschalte eingespielt, statt selbst hinzureisen.

Das eigentliche Problem ist nicht die Demokratieferne der Menschen, sondern die weitverbreitete Korruption der Eliten.

Noch steht nicht fest, ob Ghani bei den Präsidentschaftswahlen Ende September eine weitere Amtszeit gewonnen hat. Obwohl es kein Ergebnis gibt, haben sich beide Hauptkandidaten bereits zum Sieger erklärt. Von welchem Szenario gehen Sie aus?

Falls niemand der Kandidaten die Mehrheit erlangt hat, findet im November eine Stichwahl statt. Auf jeden Fall hoffe ich, dass nicht noch einmal die gleiche Situation eintritt wie im Jahr 2014. Damals lag beim ersten Wahldurchgang Ghanis Kontrahent Abdullah Abdullah auf dem ersten Platz. Im zweiten Durchgang hieß es plötzlich, Ghani habe gewonnen. Hinterher waren die beiden Lager so zerstritten, dass sich die Anhänger gegenseitig umbrachten. Letztendlich reiste der damalige amerikanische Außenminister John Kerry nach Afghanistan und erklärte Ghani zum Sieger, um die Eskalation zu stoppen. Für Abdullah Abdullah wurde das neue Amt des Regierungsvorsitzenden geschaffen. Für die Afghanen war das eine herbe Enttäuschung. Viele haben sich gesagt: Wir haben unser Leben riskiert und unsere Stimme abgegeben, nur damit am Ende ein Amerikaner die Entscheidung fällt.

Dabei wird oft behauptet, Afghanistan sei nicht bereit für eine Demokratie und demokratische Werte seien dieser Kultur fremd. Wie sehen Sie dieses Klischee?

Diese Aussage halte ich für falsch. Viele überzeugte Wähler sind auch trotz Todesdrohungen wieder an die Urnen gegangen. Tatsächlich gibt es in der paschtunischen Kultur eine lange Tradition von Stammesversammlungen, eine einheimische Form der Demokratie. Man debattiert, wählt Repräsentanten und trifft Entscheidungen. Das eigentliche Problem ist nicht die Demokratieferne der Menschen, sondern die weitverbreitete Korruption der Eliten sowie der Machthunger der Warlords, die sich alle ihre fetten Stücke vom Kuchen abschneiden wollen. Dabei geht es meist um Reichtümer wie Bodenschätze oder Ländereien in den Provinzen.

Nach neun Verhandlungsrunden ließ US-Präsident Donald Trump kürzlich die Gespräche zwischen den USA und den Taliban per Twitter abbrechen. Wie soll es jetzt weitergehen?

Die Verhandlungen waren nicht umsonst. Es gibt ja momentan Anzeichen, dass diese bald wieder aufgenommen werden. Trump fragte in seinem Tweet Anfang September: « Wie viele Jahrzehnte mehr möchten die Taliban noch kämpfen? » Letztendlich sitzen die Taliban am längeren Hebel. Die Amerikaner werden irgendwann abziehen müssen, doch die Taliban können, wenn sie wollen, weiterkämpfen. Ein afghanisches Sprichwort lautet: « Ihr habt die Uhren, doch wir haben die Zeit. » Es war in Afghanistan schon immer so, dass die müden Invasoren irgendwann wieder verschwanden. So erging es auch den Briten Ende des 19. Jahrhunderts. Doch genauso wichtig wie die Gespräche mit den Taliban ist der innerafghanische Dialog, der all die verschiedenen Bevölkerungsschichten auf demokratische Weise zusammenbringen muss: Ex-Mudschahedin genauso wie Liberale und Frauenrechtlerinnen. Die Afghanen müssen sich im Klaren sein, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen und keine ausländische Macht ihr Land befrieden kann.

Zur Person

Emran Feroz, freier Autor, hat sich mit seiner kritischen Stimme als Afghanistan-Kenner in den deutschsprachigen Medien einen Namen gemacht. Daneben schrieb er auch für internationale Publikationen wie etwa die “New York Times” oder den “Atlantic”. 2017 erschien sein erstes Buch « Tod per Knopfdruck. Das wahre Ausmaß des US-Drohnen-Terrors oder Wie Mord zum Alltag werden konnte ». Als Gründer von « Drone Memorial » richtete Feroz die erste virtuelle Gedenkstätte für Drohnenopfer ein.