Bei der aktuellen Leichtathletik-WM in Doha entscheidet sich wieder das Höher, Weiter, Stärker. Die Läuferin Caster Semenya darf wegen erhöhten Testosteron-Werten nicht an den Start. Hinter ihrem Schicksal verbirgt sich eine zunehmende Kontroverse in der Welt des Spitzensports.
Über der Weltmeisterschaft stehen nur noch die großen Olympischen Spiele. Bei der letzten Ausgabe 2016 in Rio lief die Schottin Lyndsey Sharp persönliche Bestzeit und brach in Tränen aus. Sie wurde Sechste, nur Sechste und beklagte sich: « Jeder konnte sehen, dass es zwei verschiedene Rennen waren. Ich konnte nichts dagegen tun. » Mehr als zwei Sekunden hinter der dominanten Siegerin Caster Semenya und immer noch eine Sekunde hinter Francine Niyonsaba und Margaret Nyairera Wambui trudelte sie ein.
Die drei Sportlerinnen kamen mit dem Androgen-Insuffizienz-Syndrom zur Welt und haben von Natur aus einen sehr hohen Spiegel des männlichen Hormons Testosteron. Im Rückblick zeigt sich: Das Bild des Podiums der olympischen 800 Meter erschütterte den Wettkampfsport in seinen Grundfesten. Für faire sportliche Vergleiche sind manche Sportarten in Gewichtsklassen eingeteilt. Nahezu alle unterscheiden zwischen Mann und Frau. Eine strenge Unterscheidung, über die sich Sportfunktionäre, Juristen und Wissenschaftler seit zehn Jahren verstärkt den Kopf zerbrechen.
Gott hat mich so geschaffen, wie ich bin. »Caster Semenya, südafrikanische Olympiasiegerin
Als die Südafrikanerin Caster Semenya beim WM-Sieg 2009 in das grelle Licht der Weltöffentlichkeit trat, richteten sich alle Blicke auf ihren muskulösen, durchtrainierten Körper und ihr kantiges Gesicht. Die breiten Schultern der 18-Jährigen trugen eine unvorstellbare Last: Ihre Identität wurde offen angezweifelt, drei Stunden vor dem Finale verlangte der internationale Verband IAAF eine Überprüfung ihres Geschlechts.
2019 darf die aktuelle Titelverteidigerin in Doha nicht starten. Auch Russland wird wegen Dopingaffären bei dieser Leichtathletik-WM kein Team stellen. In der Frage der Intersexualität, also dass Chromosomen, Gene und Hormone das Geschlecht bei einigen weniger eindeutig als bei den meisten Menschen definieren, variiert die Rechtsprechung seit einigen Jahren. Dabei gibt es uralte Präzedenzfälle.
Intersexualität im Sport: eine lange Vorgeschichte
Als die Sprintsiegerin der Spiele von Los Angeles 1932 Stella Walsh starb, wurden bei ihr unterentwickelte männliche Genitalien entdeckt. Mit Weltrekord gewann Dora Ratjen 1938 die Europameisterschaft im Hochsprung und wurde Vierte bei den Olympischen Spielen in Berlin. Nachdem die deutsche Polizei die mutmaßliche Intersexuelle jedoch als Mann definierte, wurden all ihre Resultate gestrichen.
Einer der bekanntesten Fälle ist die Abfahrtsweltmeisterin von 1966 Erika Schinegger, die 1967 wegen innenliegenden männlichen Geschlechtsorganen von den Winterspielen ausgeschlossen wurde und später als Erik lebte. Die Press-Sisters, also Irina und Tamara Press aus der Sowjetunion, hatten beide bereits mehrfach überlegen Gold in der olympischen Leichtathletik gewonnen, ehe sie plötzlich von der Bühne verschwanden. Ab 1966, als die IAAF Geschlechtstests bei Kontinentalmeisterschaften eingeführt hatte. Den erstmals 1968 bei Olympischen Spielen durchgeführten demütigenden Untersuchungen musste sich auch die ehemalige luxemburgische Außenministerin und damalige Spitzenfechterin Colette Flesch unterziehen.
Später wurden Chromosomen analysiert und erst 2000 in Sydney durchgängige Tests abgeschafft. Doch 2009 wurde Caster Semenya als Einzelfall eingehend von Gynäkologen, Internisten, Endokrinologen, Geschlechterexperten und Psychiatern untersucht. Zum Zweifel an der knapp volljährigen Athletin gesellte sich massive Kritik am rücksichtslosen Vorgehen der Funktionäre, vor allem aus der südafrikanischen Gesellschaft. Obwohl die Untersuchungen offiziell nie veröffentlicht wurden, kam heraus, dass Semenaya weder Eierstöcke noch eine Gebärmutter hat, sondern innenliegende Hoden und einen sehr hohen Testosteronspiegel. In dem weltweiten Wirbel äußerte sie: « Gott hat mich so geschaffen, wie ich bin. »
« Es gibt kein Schwarz und Weiß, es ist viel komplexer »
Doch was menschlich nachvollziehbar und gesellschaftlich immer mehr akzeptiert ist, stellt für die Regularien der Sportwelt ein reales Problem dar. Bei den Debatten geht es vor allem um Fairness und Chancengleichheit. Eindeutige Antworten sind schwer zu finden, nicht nur für die Gerichte.
Sie haben einen natürlichen Vorteil, an den andere Läuferinnen, egal wie hart sie arbeiten, nie herankommen. »Charline Mathias, luxemburgische Mittelstreckenläuferin
2016 trat in Rio auch die luxemburgische Leichtathletin Charline Mathias gegen Caster Semenya an. Als 58. kann sie entspannt sagen: « Mir hat niemand eine Medaille weggenommen. » Und dennoch befasst sie sich intensiver mit dem Thema: « Es gibt kein Schwarz und Weiß, es ist viel komplexer. Auch das Wort fair ist in dem Zusammenhang schwierig. Sie haben einen natürlichen Vorteil, an den andere Läuferinnen, egal wie hart sie arbeiten, nie herankommen », sagt die Mittelstreckenläuferin.
« Doch auch andere Sportler haben natürliche Vorteile, wo will man die Linie ziehen? », so Charline Mathias weiter. Unfair sei es, wenn sich jemand etwa mit Doping einen unerlaubten Vorteil verschaffe. Doch Sportlerinnen wie Caster Semenya « können ja nichts für ihren Vorteil ». Was wie eine Verteidigung klingt, schränkt die luxemburgische Sportlerin gleichzeitig ein: « Ich bin aber auch der Meinung, dass sie nicht bei den Frauen starten sollen. Das ist sonst quasi eine Zweiklassengesellschaft. »
Geschlechtstests missachten Würde der Betroffenen
Mit dem Abschaffen der Geschlechtstests hatten die obersten Sportfunktionäre des IOC und der Verbände eigentlich auch die jahrzehntealte wissenschaftliche Erkenntnis anerkannt, wonach sich das menschliche Geschlecht manchmal nicht eindeutig bestimmen lässt. Einen einheitlichen Wettkampf wollte die IAAF deshalb 2011 mit einem Testosteron-Höchstwert von zehn Nanomol pro Liter garantieren. Für die Starterlaubnis mussten einige Sportlerinnen ihren natürlichen Hormonspiegel mit Medikamenten künstlich senken.
Bei den Spielen in London 2012 gewann die künstlich gebremste Caster Semenya hinter der später wegen Dopings disqualifizierten Russin Mariya Savinova nur Silber. Vier weitere Sportlerinnen zwischen 18 und 21 Jahren aus ländlichen Gegenden in Entwicklungsländern zeigten bei jenen Spielen hohe Testosteron-Werte. Allen Vier wurden anschließend innenliegende, Testosteron produzierende Hoden entfernt und Östrogentherapien verabreicht.
Mit diesen Tests wird ein grundsätzliches Urteil über einen Menschen abgegeben: Du bist keine richtige Frau. Und das geht bei den Betroffenen an die Wurzel der Existenz. »Claudia Wiesemann, Expertin für Medizinethik
Bereits 2011 äußerte sich die Ärztin und Medizinethikerin Claudia Wiesemann im Interview mit der « Süddeutschen Zeitung » entschieden im Sinne der Betroffenen: « Sportlerinnen – unter Umständen noch Jugendliche – werden faktisch gezwungen, die Tests durchführen zu lassen. Die neue Regelung des IOC missachtet den Schutz dieser Personen. Wir wissen, dass die Ergebnisse genetischer Diagnostik dramatische Auswirkungen haben können. »
Die Direktorin der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen führt weiter aus: « Es handelt sich hier um sehr persönliche Daten und Befunde. Das Geschlecht ist für viele Menschen identitätsbestimmend. Wenn es in Zweifel gezogen wird, kann ein Mensch in massive Identitätsprobleme geraten. (…) Mit diesen Tests wird ein grundsätzliches Urteil über einen Menschen abgegeben: Du bist keine richtige Frau. Und das geht bei den Betroffenen an die Wurzel der Existenz. »
Startverbot wohl keine endgültige Entscheidung
Im Juli 2015 stoppten die Richter des Internationalen Sportgerichtshofs (CAS) jedoch die Testosteronregelung der IAAF. Mit der Begründung: « Obwohl sportliche Wettkämpfe in separate Kategorien für Männer und Frauen aufgeteilt werden, ist das menschliche Geschlecht nicht binär. » Sie forderten eine « notwendige, vernünftige und angemessene Grundlage », da die Natur nicht akkurat sei und es nicht den einzigen Bestimmungsfaktor für das Geschlecht gebe.

Eine von der IAAF lancierte Studie bezifferte den Vorteil eines drei- bis sogar zehnfach höheren Testosteronspiegels von Athletinnen wie Caster Semenya auf bis zu 4,5 Prozent. Für die Laufstrecken von 400 Meter bis eine Meile wurde eine Testosterongrenze von fünf Nanomol festgelegt. Mit einem Mehrheitsentscheid stützte der CAS diese Regelung. Die eigentliche Frage « Wann ist eine Frau eine Frau? », blieb dagegen ausgeblendet, da sie schlichtweg nicht immer und nicht eindeutig zu beantworten ist.
Was machen wir eigentlich gerade? Menschen, die so ganz natürlich zur Welt kamen, zwingen wir zu etwas, was wir sonst nie erlauben würden. »Yves Göldi, luxemburgischer Mittelstreckentrainer
Das CAS urteilte Ende April 2019 in seiner 165-seitigen Begründung, dass die IAAF-Regel « diskriminierend » sei, diese Diskriminierung allerdings « notwendig, angemessen und verhältnismäßig für das Ziel der IAAF sei, die Integrität der Frauen-Leichtathletik zu schützen. » Der folgende Einspruch von Caster Semenya und damit die Aussetzung der Regel wurde am 30. Juli 2019 zwar zurückgenommen, aber über die Berufung ist noch nicht endgültig entschieden. Selbst der Sportgerichtshof bezeichnet die IAAF-Regelung als « lebendes Dokument », das mit neuen Beweisen und Studien jederzeit zugunsten Semenyas kippen könnte.
Fragwürdige Studien, vielschichtige Debatte
Der luxemburgische Mittelstreckentrainer Yves Göldi äußert Verständnis für beide Seiten: « Als Athletin hätte ich wohl die Tendenz: unfairer Vorteil. Doch es ist ein extrem komplexes Problem, in das medizinische, juristische, gesellschaftliche und auch moralische Aspekte mit einfließen. » Gerade den gesellschaftlichen und moralischen Aspekt hinterfragt der Nationaltrainer: « Was machen wir eigentlich gerade? Menschen, die so ganz natürlich zur Welt kamen, zwingen wir zu etwas, was wir sonst nie erlauben würden. Ihren natürlichen Körper mit Medikamenten so zu verändern, wie wir es vorschreiben. »
Im Sport würde doch eh eine Selektion aufgrund der natürlichen Charakteristik erfolgen, wie es am augenscheinlichsten etwa beim Basketball oder Volleyball über die Körpergröße passiert. Die sportliche Leistungsfähigkeit von Frauen dabei einzig auf den Testosteronspiegel zu reduzieren, sei also nicht nur juristisch schwer haltbar.
Demnach stellt sich auch die Frage der Fairness in mehrerer Hinsicht. Frauen mit gewöhnlichen Testosteron-Werten mögen zwar in manchen Disziplinen chancenlos sein. Doch wie wertet man dieses Ungleichgewicht im Vergleich mit ihren Gegnerinnen, die auch in ihrem alltäglichen Leben diskriminiert werden? Das Urteil des Internationalen Sportgerichtshofs, wonach manche Athletinnen diskriminiert werden müssen, um die Integrität aller Athletinnen zu schützen, spricht vorerst eine klare Sprache.
Müsste dann nicht eigentlich der Testosteronspiegel jeder Sportlerin untersucht werden? Oder erfolgt die Auswahl willkürlich? »Charline Mathias, luxemburgische Mittelstreckenläuferin
Explizit beziehen die Richter die Gültigkeit ihres Urteils dabei nur auf die rund zwei Quadratkilometer von Monaco, wo auch die IAAF ihren Sitz hat. Das Schiedsgericht könne nicht entscheiden, « ob die Regeln (der IAAF) in unterschiedlichen Rechtsprechungen nicht durchzusetzen sein könnten oder nationalem Recht in verschiedenen Jurisdiktionen entgegenstehen könnten. » In den USA, dem Ausrichter der Weltmeisterschaften 2021, dürften sie gegen Gesetzestexte zur Diskriminierung verstoßen und die zentrale IAAF-Studie wohl nicht vor Gericht anerkannt werden. « Ich weiß nicht, ob eine Entscheidung solcher Tragweite aufgrund von fragwürdigen wissenschaftlichen Studien getroffen werden kann », sagt auch Yves Göldi.
Sein Schützling Charline Mathias findet zudem, dass die Regelung im Zweifelsfall disziplinübergreifend erfolgen sollte. Die IAAF untersuchte zwar nur die Mittelstrecken und die Richter bezweifelten zusätzlich den Grenzwert ab 1.500 Meter aufgrund zu dünner Forschungs- bzw. Beweislage. Doch zeigten beispielsweise Tamara Press oder spätere, gezielt mit Testosteron gedopte Sportlerinnen auch im Diskuswerfen und Kugelstoßen eigentlich unvorstellbare Leistungen. Die Luxemburgerin hat am Ende aber auch eine praktische Frage an ihren Weltverband: « Müsste dann nicht eigentlich der Testosteronspiegel jeder Sportlerin untersucht werden? Oder erfolgt die Auswahl willkürlich? »