Das Conflictorium in Ahmedabad ist Indiens erstes Museum für Konflikt. Es liegt in einem Stadtteil, in welchem sich vor sechzehn Jahren tragische hindu-muslimische Ausschreitungen abgespielt haben. Unser Korrespondent Marian Brehmer hat das Museum besucht.
Die westindische Stadt Ahmedabad mit ihren sieben Millionen Einwohnern ist unter Indern vor allem für zwei Dinge bekannt: Sie ist die Stadt, in der Mahatma Gandhi gut zwei Jahrzehnte lebte und seine erste Aschram-Kommune aufbaute. Dort brütete Gandhi über Konzepten wie dem zivilen Ungehorsam und der kompromisslosen Gewaltlosigkeit — Ideen, die Indien von der britischen Kolonialmacht befreiten. Außerdem ist Ahmedabad die politische Heimat von Indiens Präsident Narendra Modi, der dort dreizehn Jahre lang als Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat politische Karriere machte.
Doch Ahmedabad wird auch mit einer Tragödie in Verbindung gebracht. Das Zugunglück von Godhra, einhundert Kilometer östlich von Ahmedabad, löste am 27. Februar 2002 eine der dunkelsten Kapitel in der jüngeren indischen Geschichte aus. Für den Zugbrand, bei dem gut sechzig Pilger einer hindunationalistischen Gruppierung ums Leben kamen, wurden Muslime verantwortlich gemacht — eine Behauptung, die sich später als falsch herausstellen sollte. In den folgenden Tagen kamen bei Unruhen, die durch aufgebrachte Hindus angezettelt wurden, 800 Muslime ums Leben, die meisten davon in Gujarats Hauptstadt Ahmedabad.
Hindu-muslimische Gewaltwelle und die Folgen
Die schlimmste interkommunale Gewaltwelle im Indien des 21. Jahrhunderts hinterließ eine Narbe auf dem Gesicht des Subkontinents und viele Fragen, mit der sich indische Intellektuelle bis heute beschäftigen. Denn Narendra Modi, der damals noch Ministerpräsident von Gujarat war, wird seit Jahren vorgeworfen, nicht eingegriffen und das Blutvergießen stillschweigend toleriert zu haben. Laut Untersuchungen soll Modi den Polizeibeamten sogar aufgetragen haben, nicht gegen die Randalierer einzuschreiten.
Avni Sethi, eine Grafikdesignerin aus Ahmedabad, war 2002 zwölf Jahre alt. Sie erinnert sich noch gut an die plötzlichen Gewaltausbrüche in ihrer Stadt: « In der Gesellschaft, in der ich aufwuchs, passierte Konflikt immer ‘woanders’, aber nicht innerhalb unserer eigenen Lebenswirklichkeit. Mit den Unruhen von 2002 wurde Konflikt plötzlich Teil meiner eigenen Realität. Das veränderte meinen Blick auf die Stadt. »
So lange wir einander nicht kennen, wirkt alles erstmal dunkel und furchterregend. »Avni Sethi
Nach der Katastrophe sei die Stadt in eine Wolke des Schweigens eingehüllt gewesen, es habe nur wenig öffentlichen Dialog gegeben. Auch heute noch würden viele in Ahmedabad das Thema lieber verdrängen. Doch im Leben von Indiens Muslimen, so Sethi, seien die Unruhen ein großer Einschnitt gewesen: « Vorurteile gegen Muslime wurden damals legitimiert. Die Diskriminierung von Muslimen in Ahmedabad ist heute salonfähig. »
Sethi trägt einen modernen Schalwar Kamis, bestehend aus einer traditionell indischen Pluderhose und einem knielangen weißen Hemd. Sie gestikuliert hinter dem Schreibtisch ihres kleinen Büros. Vor fünf Jahren gründete die 27-jährige Aktivistin das « Conflictorium », Indiens erstes Museum, das ausschließlich dem Thema Konflikt gewidmet ist. Das Conflictorium liegt mitten in Mirzapur, einem Stadtteil, der damals von den anti-muslimischen Übergriffen betroffen war.
Ein Mikrokosmos von Indiens religiöser Vielfalt
Wer in Mirzapur aus dem Taxi steigt, den überkommt schnell ein Gefühl von « raues Pflaster ». Der schmuddelig wirkende Stadtteil liegt auf dem östlichen Ufer des Sabarmati-Flusses, der Ahmedabad in zwei Stadthälften teilt. Rickschafahrer kabbeln sich am Rand einer staubigen Hauptstraße zwischen ihren geparkten dreirädrigen Vehikeln. Eine Familie in abgenutzter Kleidung sitzt auf einem klapprigen Bettgestell in der Mittagssonne, während Ziegen und Kühe umherstaksen. Bei der Familie handelt es sich um Muslime, wie sich vom elegant drapierten Kopftuch der Mutter schließen lässt. Ein kleiner Hindutempel fällt ins Auge, ebenso eine Kirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Mitten in diesem Mikrokosmos von Indiens religiöser Vielfalt liegt eine weiße Kolonialstilvilla, die schon bessere Tage gesehen hat.
In diesem Gebäude öffnete vor fünf Jahren das Conflictorium seine Türen. « Es herrscht in Ahmedabad eine Angst davor, den Fluss zu überqueren und auf diese Stadtseite zu fahren », meint Sethi. « Doch wenn die Menschen erst einmal hierher kommen, stellen sie fest, dass es eigentlich gar nicht so schlimm ist. So lange wir einander nicht kennen, wirkt alles erstmal dunkel und furchterregend. »

Das Conflictorium versteht sich als interaktiver Raum für Kunst, will aber nicht nur Intellektuelle, sondern auch die Ortsansässigen im Viertel ansprechen. Dafür führt Sethi Gespräche mit den Frauen in der Nachbarschaft und lädt Kinder zu Kunstworkshops und Filmvorführungen ein. Die Lage ihres Museums, erklärt Sethi, sei gleichzeitig eine physische Manifestation von dem, was das Museum rüberbringen wolle. Denn die Menschen von Mirzapur erlebten ihren Alltag vor allem als Herausforderung, als Überlebenskampf mit Konflikten auf allen möglichen Ebenen.
Über die verschiedenen Ebenen von Konflikt will das Conflictorium in seiner minimalistisch eingerichteten Ausstellung zum Nachdenken anregen. Im Haus bröckelt der Putz von den Wänden, alles wirkt roh und ein wenig ungemütlich. Während ein Ausstellungszimmer die Geschichte von Konflikten und gesellschaftlichen Diskursen in Gujarat aufzeichnet, geht es in einem anderen Raum um die alltäglichen Konflikte in uns selbst und um die Debattenkultur in unserer Gesellschaft.
Im ersten Stock führt der Rundgang auf einen Balkon, von dem der Besucher auf das Leben der viel befahrenen Straßen von Mirzapur blickt. Ein Baum, dessen Äste fast bis in Haus hineinreichen, wurde als Kunstobjekt in die Ausstellung integriert. Der « Sorry Tree » lädt Gäste ein, kleine Botschaften der Entschuldigung auf Zettel zu schreiben und an den Ästen festzubinden. Manche haben hier Nachrichten an ihre Eltern oder Freunde hinterlassen, andere haben sich an verflossene Geliebte gewendet.
Keine Berührungspunkte mit der eigenen Verfassung
An der Wand neben dem Baum steht in Pinselbuchstaben der Abschiedsbrief von Rohith Vemula, das inzwischen berühmte Schreiben eines kastenlosen Studenten, der 2016 auf dem Campus einer Universität in Hyderabad seinem Leben ein Ende setzte — eine Erinnerung an die verschiedenen Spielarten von systemischer Diskriminierung, welche die indische Gesellschaft bis heute durchziehen.
Eigentlich braucht die ganze Welt Orte wie das Conflictorium. Wir haben als Menschen vergessen, was es heißt, einander zuzuhören. »Avni Sethi
Im Erdgeschoss des Conflictorium liegt eine dicke Ausgabe der indischen Verfassung auf einem Pult in einem sonst leeren Raum. Für die meisten Ausstellungsbesucher ist dies der erste physische Kontakt mit dem wichtigsten Gesetz ihres Landes und den Rechten, die darin festgehalten sind. Indien, so wird erklärt, habe die seitenmäßig umfangreichste Verfassung in der Welt, doch für die meisten Menschen im Land gebe es keine Berührungspunkte zwischen dem Schriftstück und ihrer zumeist harten Lebensrealität.
Tatsächlich hat im Modi-geführten Indien das Thema Konflikt wieder brennende Aktualität: Unter der aktuellen BJP-Regierung haben die Hindunationalisten Rückenwind bekommen, was sich etwa in symbolischen Zwangskonversionen von Muslimen durch Hindu-Missionare zeigt. In Nordindien haben indes die Übergriffe auf Muslime zugenommen, etwa weil ihnen vorgeworfen wird, Rindfleisch verzehrt zu haben.
Das Conflictorium, das sich aus Crowdfunding und NGO-Spenden finanziert, liegt einen Finger in die Wunden und schließt damit in Indien eine wichtige Lücke. Kürzlich, schildert Sethi, habe ein Gast aus Indiens Dauerbrennpunkt Kaschmir das Museum besucht und sie am Ende der Ausstellung gefragt: « Können wir nicht in Kaschmir auch ein Conflictorium bauen? »
Avni Sethi wünscht sich, dass ihr Projekt eine größere Reichweite bekommt: « Eigentlich braucht die ganze Welt Orte wie das Conflictorium. Wir haben als Menschen vergessen, was es heißt, einander zuzuhören. », sagt Sethi. « In diesem Museum wollen wir Veränderung anstoßen und einen sicheren Raum schaffen, in dem Menschen mit Unterschieden zusammenkommen können. »