Frauen, die aufgrund von häuslicher Gewalt fliehen, werden in Luxemburg nicht ausreichend geschützt. Experten sprechen von Willkür und kritisieren die Missachtung der Istanbuler Konvention im Immigrations- und Asylrecht. Die Geschichte von Donika Vlora ist kein Einzelfall.
Ein Aufschrei ging durch die politischen Reihen in Europa, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am 20. März bekannt gab, sein Land trete aus der Istanbul-Konvention aus. Auch Gleichstellungsministerin Taina Bofferding und Außenminister Jean Asselborn (beide LSAP) schickten prompt eine gemeinsame Pressemitteilung, in der sie die Entscheidung der türkischen Regierung bedauerten und die Wichtigkeit des Vertrages unterstrichen. Im Kampf gegen häusliche Gewalt und zum Schutz von betroffenen Frauen müsse die Istanbul-Konvention „unsere absolute Referenz“ bleiben, heißt es in dem Schreiben.
Doch auch in Luxemburg wird die Istanbul-Konvention nicht konsequent umgesetzt. Besonders im Asyl- und Immigrationsrecht findet das weltweit erste verbindliche Übereinkommen gegen Gewalt an Frauen kaum Anwendung. Spätestens mit der Ratifizierung der Konvention im Jahr 2018 und den damit einhergehenden, gesetzlichen Änderungen hat Luxemburg zwar die juristischen Mittel, um Frauen, die in Drittländern Opfer von häuslicher Gewalt wurden, bestmöglich zu schützen. Doch in den allermeisten Fällen werden die Anträge abgelehnt und die Frauen in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Ihre Schutzbedürftigkeit scheint auch hierzulande schwer beweisbar zu sein.
Schutzbedürftigkeit anerkennen
„Mir ist niemand bekannt, der eine Aufenthaltsgenehmigung auf Grundlage der Gesetzgebung gegen häusliche Gewalt erhalten hat“, sagt Marion Dubois von der Nichtregierungsorganisation Passerell. „Aus Angst, einen Ansturm zu provozieren, nimmt das Ministerium seine Verantwortung nicht wahr und ignoriert das Leid der Frauen“, lautet die Einschätzung der Politologin.
« Natürlich haben wir die Istanbuler Konvention bereits angewendet », widerspricht Jean Asselborn im Gespräch mit Reporter.lu. « Wenn die Kriterien offensichtlich sind, dann berücksichtigen wir sie auch. » Doch nicht jeder Antrag aufgrund von häuslicher Gewalt im Heimatland rechtfertige ein Bleiberecht in Luxemburg. Verallgemeinerungen aufgrund der Istanbuler Konvention seien falsch. « Es kommt immer auf den Einzelfall an », präzisiert der Außenminister.
Menschen, die fliehen und alles hinter sich lassen, machen dies aus einer Not heraus. Wenn das Ministerium wollen würde, könnte es betroffene Frauen auch stärker schützen. »Louis Tinti, Anwalt
« Ich kann nicht nach Albanien zurück. » Verzweiflung, Hilflosigkeit und Unverständnis sprechen aus den Augen von Donika Vlora*. Sie sitzt im Konferenzsaal der Hilfsorganisation „Femmes en détresse“ und sagt immer wieder diesen einen Satz: „Ich kann nicht nach Albanien zurück“. Im Januar hatte sie erneut eine Ablehnung bekommen. Auch der letzte Versuch, eine Aufenthaltserlaubnis für sich und ihre zwei minderjährigen Kinder zu bekommen, ist gescheitert. „Ich verstehe das nicht, wir brauchen Hilfe, ich kann meine Kinder nicht schützen“, sagt sie und beginnt, ihre Geschichte zu erzählen. Wieder einmal.
Flucht aus Albanien – Ankunft in Luxemburg
Im Frühjahr 2019 packte Donika Vlora einen Rucksack und sprang mit ihren beiden Söhnen in den ersten Bus, den sie finden konnte. Hauptsache weg, Hauptsache raus aus Tirana, raus aus Albanien, weg von ihm und weg von der Gewalt, erzählt sie. Die Situation zu Hause hatte sich immer weiter verschlimmert. Ihr Ex-Mann schlug sie beinahe täglich, griff sie mit Waffen an, drohte mehrmals, sie umzubringen, vergewaltigte sie. All das auch im Beisein der Kinder, die selbst seit frühester Kindheit vom Vater geschlagen und bedroht wurden. „Ich muss sie retten“, war das Einzige, was ihr bei ihrer Flucht durch den Kopf ging.
Sie hörte auf den Ratschlag einer Frau im Bus und stand mit ihren beiden Kindern wenige Tage später am Luxemburger Bahnhof. Sie ging zur Immigrationsbehörde, hatte dort ein erstes Gespräch und stellte ihren Antrag auf internationalen Schutz. Wenige Wochen später kam die Absage. Albanien, sicheres Herkunftsland, Eilverfahren: Donika Vlora und ihre Kinder seien aufgefordert, das Land zu verlassen. Ihr Antrag habe private Gründe und erfülle nicht die Kriterien der Istanbuler Konvention.
Bedenken von Seiten des Flüchtlingsrates
„Das erste Gespräch mit der Immigrationsbehörde ist ausschlaggebend“, sagt Jenny Diederich von der Hilfsorganisation „Femmes en détresse“. „Wird man hier abgewiesen, ist es danach sehr schwierig, neue Elemente zu finden, um doch noch einen positiven Bescheid zu bekommen“, sagt die Sozialarbeiterin, die auch Donika Vlora betreut. Die wenigsten Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, seien den Anforderungen des Gesprächs gewachsen. „Oft fehlt die Zeit, sie vorzubereiten und sie über ihre Rechte aufzuklären“, sagt Jenny Diederich. Und dann sei es oft zu spät.

Der nationale Flüchtlingsrat zeigt sich besorgt über die aktuelle Handhabung bei besonderer Vulnerabilität von Antragsstellern. „Wir sind weit davon entfernt, mit der Praxis des Erstgesprächs zufrieden sein zu können“, sagt Nonna Sehovic. „Wir kennen weder die Prozeduren, noch die Instrumente, die zum Erkennen von besonderer Vulnerabilität zum Einsatz kommen“, so das Mitglied des Flüchtlingsrates. Sie befürchtet, dass trotz klarer Gesetzeslage viele Opfer von Gewalt nicht als solche erkannt und behandelt würden.
Im Ermessen des Ministers
„Ich bin davon ausgegangen, dass der Asylantrag von Donika Vlora abgelehnt würde“, sagt der Anwalt Louis Tinti, im Gespräch mit Reporter.lu. Es sei in Luxemburg „extrem schwierig, nahezu unmöglich“, den Flüchtlingsstatus aufgrund von häuslicher Gewalt zugesprochen zu bekommen. Häusliche Gewalt werde als Privatangelegenheit behandelt. Darüber hinaus werde davon ausgegangen, dass in als sicher eingestuften Heimatländern die Infrastrukturen zur Verfügung stünden, um Opfer von häuslicher Gewalt vor Ort zu schützen.
„Ich bin damit nicht einverstanden“, sagt der Anwalt, der Donika Vlora seit ihrer Ankunft in Luxemburg betreut. „Menschen, die fliehen und alles hinter sich lassen, machen dies aus einer Not heraus“, unterstreicht er. « Wenn das Ministerium wollen würde, könnte es betroffene Frauen auch stärker schützen ».
Die gute luxemburgische Praxis der Einzelfallbehandlung halten wir für nicht korrekt. »Marion Dubois, Passerell
Nach der Ablehnung des Flüchtlingsstatus hat Louis Tinti für seine Mandantin einen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung aus privaten Gründen beantragt, für den nun nicht mehr das Asyl-, sondern das Immigrationsrecht greift. Durch die Ratifizierung der Istanbuler Konvention am 18. Juli 2018 wurde das Immigrationsgesetz durch einen zusätzlichen Absatz ergänzt, der ausschließlich die Situation von Opfern häuslicher Gewalt behandelt. Wenn die persönliche Situation, ihre Gesundheit, ihr mentaler Zustand, ihre Familiensituation oder auch die Bedrohung ihrer Sicherheit im Herkunftsland dies rechtfertigen, können Opfer eine Aufenthaltsgenehmigung „aus privaten Gründen“ erhalten.
„Die Entscheidung liegt im Ermessen des Ministers“, teilte das Außenministerium auf Nachfrage von Reporter.lu mit. Über detaillierte Zahlen bezüglich der Anträge, die aufgrund von häuslicher Gewalt gestellt würden, etwa wie viele angenommen beziehungsweise abgelehnt würden, konnte das Ministerium keine Auskunft geben.
Sorge um Missbrauch
Der Antrag von Donika Vlora wurde jedenfalls zunächst als unzulässig eingestuft. Ein gutes Jahr und zahlreiche juristische Bemühungen später revidierte das Verwaltungsgericht die Entscheidung des Ministeriums. Der Antrag wurde angenommen und erneut geprüft, um ihn im Januar 2021 letztendlich als nicht fundiert zurückzuweisen. Die juristische Argumentation auf Basis von häuslicher Gewalt und besonderer Vulnerabilität der Antragstellerin war endgültig gescheitert.
Ich muss danach mit der Entscheidung leben. Ich möchte Menschen helfen, nicht, weil ich darum gebeten wurde, sondern weil es richtig ist. »Außenminister Jean Asselborn
„Schon der Zirkus um die Zulässigkeit zeigt den schlechten Willen der Behörden“, sagt Louis Tinti. Die Sorge, dass eine nicht betroffene Frau von dem Schutzsystem profitieren könnte, scheine größer zu sein, als die Angst davor, ein Gewaltopfer nicht zu identifizieren und zu schützen. Für den Anwalt zeugt eine solche Einstellung von der „Missachtung des Geistes der Istanbuler Konvention“.
Höchste Risikostufe
„Die Familie hat in Luxemburg keine Rechte mehr, keine Krankenversicherung, kein Kindergeld, nichts. Im Foyer werden sie geduldet. Bis zur Abschiebung“, fasst Jenny Diederich von „Femmes en détresse“ die Situation von Donika Vlora und ihren Kindern zusammen. „Es ist illusorisch, von ihr zu verlangen, sich und ihre Kinder schützen zu können. Eine Rückführung wäre lebensgefährlich“, sagt die Sozialarbeiterin, die sich bei ihrer Einschätzung auf eine wissenschaftlich basierte Risikoevaluation stützt.
Die Analysen der Gefahrenstufe, des Täterprofils und der Vulnerabilität der Opfer haben ergeben, dass sich Donika Vlora und ihre Kinder auf der höchsten Risikostufe befinden. Es bestehe akute Selbstmordgefahr und das erlebte Trauma mache das Ausarbeiten eines eventuellen Schutzszenarios für ein Leben in Albanien unmöglich. „Donika Vlora gerät beim Erwähnen einer Rückkehr nach Albanien sofort in Panik“, sagt Jenny Diederich. „Eine organisierte, vorbereitete Rückführung ist nicht möglich.“ Medizinische und psychologische Gutachten bestätigen den labilen Zustand der Familie.
Die Kriterien der Istanbuler Konvention greifen in der Praxis nicht. »Louis Tinti, Anwalt
Im Gespräch wendet Jenny Diederich sich nun wieder Donika Vlora zu und macht einen Termin für die kommende Woche mit ihr aus. Sie fragt nach den Söhnen, freut sich über ihre Erfolge in der Schule und spricht Donika Vlora Mut zu. Sie habe einen guten Anwalt. Es sei noch nicht alles verloren. Schließlich gebe es neue Elemente.
Das neue Element heißt Arbeitsplatzzusage. Sollte sie eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, wird sie bei einer Sicherheitsfirma anfangen und den Lebensunterhalt für sich und ihre zwei Kinder bestreiten können. „Finanzielle Unabhängigkeit“ heißt das Argument nun. Nicht mehr „besondere Verletzbarkeit der Antragstellerin“. „Die Kriterien der Istanbuler Konvention greifen in der Praxis nicht“, sagt Louis Tinti abschließend. „Wir versuchen es nun mit anderen Mitteln und Hoffen auf das Entgegenkommen des Ministers“.
Vorwurf der Klientelpolitik
Es ist ein offenes Geheimnis in Luxemburg, dass das Schicksal von Geflüchteten, besonders von jenen aus als sicher eingestuften Herkunftsländern, nicht selten von gutem Willen abhängt. Anwälte sprechen in diesem Zusammenhang auch von Willkür und Klientelpolitik. Dass es hilfreich sei, einen guten Draht zum Minister zu haben, hört man in diesem Zusammenhang immer wieder.
« Ich bin als Minister die letzte Instanz. Doch ich treffe meine Entscheidungen aufgrund von Empfehlungen meiner Mitarbeiter, die die komplexen Dossiers bearbeitet haben », sagt Jean Asselborn dazu. Eine Entscheidung zu treffen sei niemals leicht. « Nein zu sagen, ist schwieriger als Ja zu sagen », betont er und versichert: « Ich muss danach mit der Entscheidung leben. Ich möchte Menschen helfen, nicht, weil ich darum gebeten wurde, sondern weil es richtig ist. »
Für die Nichtregierungsorganisation Passerell löst das Prinzip, Aufenthaltsgenehmigungen „nach Ermessen des Ministers“ zu vergeben, Bedenken aus. „Die gute luxemburgische Praxis der Einzelfallbehandlung halten wir für nicht korrekt“, sagt Marion Dubois im Gespräch mit Reporter.lu. Lösungen müssten in der Anwendung nationaler und internationaler Gesetzestexte gefunden werden. Im Falle der Istanbuler Konvention sei Luxemburg davon jedoch noch weit entfernt.
Der Lehrer des älteren Sohnes von Donika Vlora hat nach der Ablehnung vom Januar einen Brief an Jean Asselborn geschrieben. Darin erzählt er von den schulischen Erfolgen des Jungen, den geschlossenen Freundschaften, aber auch von seinem Sicherheitsbedürfnis und seiner enormen Angst, nach Albanien zurück zu müssen. Der Lehrer bittet ausdrücklich um ein Bleiberecht für die Familie. Vielleicht kann sein Brief ja helfen. Die Schule soll nämlich einen guten Draht zum Außenministerium haben.
*Name von der Redaktion geändert.