Viele Opfer von häuslicher Gewalt fühlen sich vom Rechtsstaat im Stich gelassen. Nur wenige Fälle werden strafrechtlich verfolgt. Für die Betroffenen kommt es allerdings nicht nur auf die juristische Aufarbeitung, sondern auch auf konkrete Hilfe und neue soziale Perspektiven an.
Angst vor einem gewalttätigen Täter. Wut angesichts der meist jahrelang erlebten eigenen Hilflosigkeit. Enttäuschung über die Entscheidungen der Justiz. Unverständnis für ein vermeintlich täterfreundliches System. Caroline* spricht aus, was auch andere denken: « Mein Fall interessiert niemanden, für die Behörden bin ich nicht mehr als eine Akte, die auf einem Stapel auf den Schreibtischen versauert », sagt sie resigniert. « Was muss denn noch alles passieren, damit endlich etwas geschieht? »
Auch die Zahlen aus dem Bericht zur häuslichen Gewalt für das Jahr 2019 zeichnen ein dunkles Bild: Durchschnittlich zweimal täglich rückte die Polizei aus, weil eine Person in den eigenen vier Wänden angegriffen wurde oder sich bedroht fühlte. 849 Polizeieinsätze hat es 2019 wegen häuslicher Gewalt gegeben, das sind knapp 15 Prozent mehr als noch im Jahr zuvor. Hinzu kommen jene Menschen, die ihren Wohnort eigenständig verlassen und sich unmittelbar bei der Polizei oder bei Hilfsorganisationen einfinden.
« Die Zahlen von häuslicher Gewalt sind zu hoch für ein modernes Land wie Luxemburg », sagt David Lentz, beigeordneter Oberstaatsanwalt, zuständig für Jugendschutz und Familienangelegenheiten. « Das ist nicht zumutbar », so der hohe Vertreter der Justiz im Gespräch mit Reporter.lu. Dennoch landet nicht einmal jeder zehnte Fall von häuslicher Gewalt tatsächlich vor Gericht. 1.692 Fälle waren der Staatsanwaltschaft im Jahr 2019 bekannt, insgesamt wurden 148 Urteile gesprochen, 17 Menschen saßen in Untersuchungshaft.
Schwierige juristische Aufarbeitung
Den Vorwurf, dass die Gerichte untätig seien, will die Justiz aber nicht so stehenlassen. « So einfach ist das nicht », sagt Laurent Seck. Dem Staatsanwalt obliegt die rechtliche Würdigung des, in der Regel von der Polizei ermittelten Sachverhaltes. Bei ihm und seinen Kollegen landen die Akten zu häuslicher Gewalt. « Die Vorwürfe, wir würden nicht angemessen handeln, lesen wir immer wieder in der Presse, aber uns erreichen wenige Beschwerden über konkrete Fälle », sagt Laurent Seck. Er betont, dass sich Betroffene und ihre Anwälte jederzeit an die Staatsanwaltschaft wenden könnten, falls sie der Meinung seien, ihr Fall werde nicht schnell genug oder nicht sachgerecht behandelt. « Wir sind immer erreichbar », so der leitende Staatsanwalt für häusliche Gewalt im Interview mit Reporter.lu.
« Rückt die Polizei aus, bekommen wir noch am selben Tag einen Bericht, aufgrund dessen wir sofort über eine Ausweisung des Täters aus dem gemeinsamen Haushalt entscheiden », erklärt Laurent Seck. 265 Ausweisungen hat es 2019 gegeben, die meisten davon zunächst einmal für 14 Tage, ein Zeitraum, in dem die Sozialdienste informiert werden und sich aktiv um die Opfer wie auch um die Täter kümmern.
Weil jemand etwas Schlechtes getan hat, ist er noch lange kein schlechter Mensch. »Laurence Bouquet, Kriminologin
Diese Unterstützung ist im Gesetz zu häuslicher Gewalt festgelegt, um den Schutz der Opfer zu gewährleisten. « Auf Basis der Berichte der Hilfsorganisationen und eines ausführlichen Polizeiberichts entscheiden wir dann, wie es weitergeht », sagt Laurent Seck. « Mit der Opferschutzvereinigung ‘Femmes en détresse’ stehen wir in ständigem Kontakt und sie teilen uns mit, falls ein Fall ihnen Sorgen bereitet. »
Häusliche Gewalt sei nicht mit anderen Straftaten zu vergleichen, so Laurent Seck weiter. Schon alleine wegen der engen sozialen Beziehungen zwischen Tätern und Opfern. Meistens handele es sich ja um Menschen, die auch in der Zukunft noch miteinander zu tun hätten, sollte es gemeinsame Kinder geben, gar ein Leben lang. Nicht immer, wenn die Polizei gerufen werde, handele es sich um eine schwere Straftat. « Manchmal ist auch nur eine Tasse an die Wand geflogen », sagt der Staatsanwalt.
« Wir arbeiten lösungsorientiert, versuchen erst einmal, Ruhe in die Situation zu bringen. Unser Ziel ist, dass der Täter aufhört, Täter zu sein », so der zuständige Staatsanwalt. Meistens helfe hier keine strafrechtliche Verfolgung, sondern vor allem Sozialarbeit. « Täter können sich aktiv ändern, dann ist meistens keine strafrechtliche Verfolgung mehr nötig », sagt Laurent Seck.
Täterarbeit als Prävention und Opferschutz
« Weil jemand etwas Schlechtes getan hat, ist er noch lange kein schlechter Mensch », sagt auch Laurence Bouquet. Die Kriminologin arbeitet für die Struktur « Riicht eraus » vom Roten Kreuz, eine Einrichtung, die potentielle, mutmaßliche oder verurteilte Täter häuslicher Gewalt unterstützt und berät. « Die meisten Personen sind nicht stolz auf das, was sie getan haben. »
Die Einrichtung bietet eine komplexe Beratung und individuelle Gesprächstherapien mit Psychologen und Psychotherapeuten an. Über drei Zugangswege kommen die Menschen, 90 Prozent Männer, zehn Prozent Frauen, zu ihnen: Entweder freiwillig, weil sie selbst Angst vor einer Grenzüberschreitung haben. Oder nach einer von der Staatsanwaltschaft angeordneten Ausweisung, die mit der Pflicht einhergeht, sich bei der Organisation zu melden. Oder aber per Gerichtsbeschluss, bei einer an Auflagen gekoppelten Bewährungsstrafe oder frühzeitigen Entlassung.
« Wir entscheiden gemeinsam, wann eine Beratung abgeschlossen ist », sagt Laurence Bouquet. Natürlich gebe es keine Garantie für eine Verhaltensänderung, doch die psychosoziale « Täterarbeit » sei letztlich ein wirksames Mittel der Gewaltprävention, und damit des Opferschutzes.
Mayas Befreiung aus der Gewalt
Maya* ist Opfer häuslicher Gewalt geworden. Sie sitzt auf dem Stuhl im Beratungsbüro des « Foyer Sud » für Frauen in Not in Esch/Alzette. Sie hat ihre Beine übereinandergeschlagen und möchte ihre Geschichte erzählen. Damit auch andere Frauen schaffen, was sie geschafft hat. Sich trauen, sich zu wehren und Hilfe zu suchen.
Sechs Jahre lebte Maya mit ihrem Mann zusammen. Sechs Jahre, in denen kaum eine Woche verging, in der er nicht gewalttätig wurde. Schläge ins Gesicht, auf den Hinterkopf, Morddrohungen, Bedrohungen mit einem Messer. Hinzu kam ihre völlige Isolierung. « Er sperrte mich ein, ich war seine Putzfrau », erzählt sie. « In den sechs Jahren habe ich nicht einmal Luxemburg-Stadt gesehen ». Maya hat es ertragen, aus ihrer heutigen Sicht viel zu lange, doch sie sah keinen Ausweg, war völlig abhängig. Emotional und finanziell, wie sie erzählt.
Mehrere Male wollte sie fliehen, erinnert sich Maya. Besonders als ihr Mann anfing, sich an dem gemeinsamen Kind zu vergreifen. Geschafft hat sie es jedoch erst, als ihr Sohn, damals vier, den Vater imitierte und seiner kleinen Kindergartenfreundin ein Spielzeugmesser an den Hals setzte. « Da war Schluss », erinnert sie sich. Ich musste nicht nur mich retten, sondern vor allem meinen Sohn. »
Hilfe bei häuslicher Gewalt
Opfer von häuslicher Gewalt können sich rund um die Uhr an die Notfallnummer der Polizei (113) wenden. Folgende Organisationen bieten zudem Rat und konkrete Hilfe an:
Femmes en détresse/Visavi: Service d’information et de consultation pour femmes. Telefon: 490877-1 Mail: visavi@fed.lu
Femmes en détresse/Fraenhaus: Refuge pour femmes victimes de violence conjugale: Telefon: 44 81 81 fraenhaus@fed.lu
Staatsanwaltschaft Luxemburg: Abteilung für häusliche Gewalt – Telefon: 475981-2443 / 2438 Mail: guichet.pl@justice.etat.lu
Staatsanwaltschaft Diekirch: Abteilung für häusliche Gewalt – Telefon: 803214 – 45 / 48 Mail: guichet.pd@justice.etat.lu
Maya ging mit ihrem Sohn schließlich zur Polizei. Sie bekamen ein Zimmer in einem Frauenhaus, psychologische Betreuung und einen Anwalt vermittelt. Sie richtete ein Konto ein, das erste in ihrem Leben, machte den Führerschein, begann zu arbeiten, fand Freundinnen. Ihr Sohn geht in die Schule, spielt Fußball und lacht wieder. Ein Strafverfahren strebt Maya nicht an. Zivilrechtlich werden das Sorge- und Besuchsrecht verhandelt. Mehr Justiz möchte Maya nicht. Denn sie hat ihr Ziel erreicht. Zumindest fast. Das einzige, was ihr zu ihrem neuen Leben ohne Angst und Abhängigkeit noch fehle? « Ein unbefristeter Arbeitsvertrag », sagt sie und fügt hinzu: « Damit ich eine Wohnung finde und meine Wohnung hier frei wird für andere Frauen in Not. »
Wohnungsnot verschärft das Problem
« Unsere Wartelisten werden immer länger », sagt Fabienne Becker, seit knapp fünf Jahren Sozialarbeiterin im « Foyer Sud » in Esch/Alzette. Eigentlich sei vorgesehen, dass die Frauen etwa drei Monate in einem Frauenhaus blieben, um dann, entweder wie Maya in eine betreute Wohnstruktur oder direkt in eine autonome Wohnung umzuziehen. Im Schnitt bleiben die Frauen jedoch neun Monate bis eineinhalb Jahre im Frauenhaus, weniger wegen ihrer Verfassung, sondern vor allem, weil sie keine alternative Wohnmöglichkeit finden.
« In Esch kommt noch hinzu, dass die Plätze in den Kindertagesstätten und Horten der Nachfrage nicht gerecht werden », sagt Fabienne Becker. Viele Frauen können nicht anfangen, zu arbeiten und selbstständig zu werden, weil es an der Betreuung für ihre Kinder mangelt. Wohnungsnot und fehlende Kinderbetreuung seien schlechte Rahmenbedingungen für Frauen, meist Mütter, die sich von Grund auf ein neues Leben aufbauen müssen, so die Sozialarbeiterin. Besonders während der Pandemie, in der Existenzängste bei vielen, gerade psychisch labilen Menschen noch stärker ausgeprägt sind, zögern sie, sich Hilfe zu suchen. « Für viele ist jetzt noch weniger der Moment, das gemeinsame Haus zu verlassen », sagt die Expertin vom « Foyer Sud ».
Umso wichtiger sei es, dass Frauen wie Maya ihre Geschichte erzählten. « Sie war eine völlig andere Frau, als sie hier ankam, sie hatte nichts », erinnert sich Fabienne Becker. Kein Geld, keine Perspektive, kein Selbstwertgefühl. Gemeinsam mit Sozialarbeitern und Psychologen hat sie sich Schritt für Schritt ein neues Leben aufgebaut. « Wir können helfen. Ich bin schon froh um jede Frau, die zu uns kommt », meint Fabienne Becker. « Wir finden Lösungen. »
Caroline hingegen bereitet ihren Umzug ins Ausland vor. « In diesem Land möchte ich nicht mehr leben. » Sie glaubt nicht mehr an juristische Folgen ihrer Anklage wegen häuslicher Gewalt, daran, dass sie eines Tages Recht bekommen und der Täter bestraft werden wird. Zumal sie längst nicht mehr mit ihm unter einem Dach lebt. « Das Ganze verläuft einfach im Sand », sagt sie enttäuscht. « Dann bin ich glücklicher, weit weg von hier, in einem anderen Land, in dem ich noch einmal etwas Neues beginnen kann. »
* Namen wurden von der Redaktion geändert.