In Großbritannien führt ein Skandal über das Management der Einwanderungspolitik zum Rücktritt einer Ministerin. Das Problem wird auch Folgen für die Brexit-Verhandlungen, die Lage der EU-Bürger und den generellen Stellenwert der Menschenrechte im Land haben.
Rund eine halbe Million karibische Einwanderer hat das Vereinigte Königreich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ins Land geholt. Die sogenannte Windrush-Generation – benannt nach dem Schiff, das die Einwanderer nach Großbritannien brachte – sollte als billige Arbeitskräfte dienen und beim Wiederaufbau des Landes helfen. Offizielle Einwanderungspapiere gab es keine. Und genau deswegen ist der Name heute in aller Munde.
Aufgrund einer Gesetzesänderung von 2012 werden viele von Ihnen und ihren Nachkommen als illegale Einwanderer klassifiziert, mit allen damit verbundenen Konsequenzen: Ihnen droht die Abschiebung und sie haben kein Anrecht auf Sozialleistungen oder Gesundheitsversorgung. Damit sie als Bürger anerkannt werden, müssen sie zum Beispiel jedes Jahr, in dem sie in Großbritannien gelebt haben, ausführlich dokumentieren. Ein administrativer Kraftakt – besonders dann, wenn das Innenministerium Fehler macht. Und das kommt, wie die fast alltäglichen Enthüllungen in den britischen Medien zeigen, häufig vor.
Dabei ist der Windrush-Skandal kein isoliertes Problem, sondern eher der Ausdruck einer immer feindseligeren Stimmung gegenüber Migranten. Am Sonntagabend ist Innenministerin Amber Rudd zurückgetreten. Sie hat unter anderem bei einer Anhörung im Parlamentsausschuss behauptet, Großbritannien hätte keine Zielvorgaben für die Abschiebung von Immigranten. Wenig später konnte der « Guardian » nachweisen, dass das nicht der Wahrheit entsprach. In einem Brief an Premierministerin Theresa May hatte Rudd nämlich vorgeschlagen, die Abschiebungsrate auf zehn Prozent zu erhöhen.
Laut den Kommentaren in den britischen Medien ist Windrush mehr als eine Reihe zufälliger Fehler, sondern vielmehr ein Auswuchs der krampfhaften Regierungsversuche, die Immigrationsraten zu senken. Dabei gab es diese Bestrebungen schon vor dem Brexit-Referendum 2016. Bereits 2010 hatte der damalige Premierminister David Cameron versprochen, die Einwanderungsquoten herunterzuschrauben.
Zunehmende Feindseligkeit
Das Referendum hat die Gesellschaft allerdings gespalten, bedauert der britische Abgeordnete im EU-Parlament Wajid Khan. Die Stimmung in seinem Heimatland sei schlecht und die Übergriffe auf Immigranten würden sich häufen. „Menschen, die anders aussehen und anders reden, werden bedroht und bedrängt. Auch EU-Bürgern wird immer wieder gesagt, sie sollen gefälligst nach Hause gehen.“
Wir wollen die Kontrolle darüber, wer zu uns kommt. »John Marshall, britischer Botschafter in Luxemburg
Auch der britische Botschafter in Luxemburg, John Marshall, bestätigt im Gespräch mit REPORTER: „Immigration ist seit dem Referendum ein großes Thema.“ Die „toxische Antimigrationsstimmung“, die Khan beschreibt, beobachtet er jedoch nicht. Großbritannien sei weiterhin ein einwanderungsfreundliches Land. „Denn wir brauchen die Arbeitskräfte, zum Beispiel in der Landwirtschaft oder in der Pflege.“ Insbesondere das britische Gesundheitssystem werde von ausländischen Arbeitskräften getragen. Für das Problemkind NHS wäre ihr Verlust fatal.
John Marshall bringt es jedoch auf den Punkt, wenn er sagt: „Wir wollen die Kontrolle darüber, wer zu uns kommt.“ Die verschärfte Immigrationspolitik sei bereits ein Ausdruck dieser Denkweise findet Maike Bohn, die sich mit der NGO « the3Million » für die Interessen der EU-Bürger in Großbritannien einsetzt. „Es sieht so aus, als wolle man die ‚guten’ Immigranten behalten und sich von den anderen bequem entledigen“, warnt sie. Dabei doktert das Vereinigte Königreich noch daran, wie seine Einwanderungspolitik nach dem Brexit konkret aussehen soll. Soviel stehe laut John Marshall aber schon fest: „Es wird Einschränkungen geben.“ Wie in so vielen Dossiers, wolle Großbritannien „die Kontrolle zurück haben.“
Windrush und die EU-Bürger
Windrush erschüttert nicht nur die Briten, sondern schlägt angesichts der unsicheren Zukunft der in Großbritannien ansässigen EU-Bürger auch in und um Brüssel hohe Wellen. Wie der Brexit-Beauftragte der EU, Guy Verhofstadt, vergangene Woche vor dem EU-Parlament betonte: „Windrush schürt neue Ängste.“
Für John Marshall ist das nicht nachzuvollziehen. Er beruhigt: London und Brüssel würden an einem einfachen und nutzerfreundlichen Antragssystem arbeiten. „Alle EU-Bürger, die nachweislich fünf Jahre oder mehr im Land gelebt haben, erhalten ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht (settled status). Und alle, bei denen es weniger als fünf Jahre sind, dürfen so lange bleiben bis sie diese Zahl erreicht haben. Dann dürfen sie sich ebenfalls dauerhaft niederlassen.“
Das klingt zwar einfach, doch bleiben viele Fragen ungeklärt, sagte auch Guy Verhofstadt in Straßburg. Er betonte, man müsse sicherstellen, dass die EU-Bürger nicht der gleiche bürokratische Albtraum erwarte, wie die Windrush-Opfer.
Auch Wajid Khan äußert im Gespräch mit REPORTER Zweifel: „Wenn Großbritannien nicht einmal mit 57.000 Windrush-Fällen klarkommt, wie will sie dann den Status von drei Millionen EU-Bürgern gewissenhaft überprüfen?“ Für den Labour-Abgeordneten gibt es keinen Grund zur Annahme, dass es den EU-Bürgern anders gehen wird wie der Windrush-Generation.
Neues Datenschutzgesetz
Dabei lauert das nächste Problem gleich um die Ecke. Die Lage für all jene, deren Status von den Entscheidungen des Innenministeriums abhängt, droht ab dem 25. Mai noch verzwickter zu werden. Dann tritt nämlich die neue EU-Datenschutz-Grundverordnung (GDPR) in Kraft. An sie muss sich auch das Noch-Mitglied Großbritannien halten. Den Briten bleibt nicht einmal mehr ein Monat um die Verordnung in der nationalen Gesetzgebung zu verankern. Wird das neue Datenschutzgesetz in seiner jetzigen Form verabschiedet, dann hat das fatale Konsequenzen.
Denn der britische Gesetzesvorschlag, der schon bald durch die Dritte Lesung gehen soll, sieht in Paragraph 4 eine folgenschwere Ausnahme vor: Demnach gelten die Regelungen der GDPR nicht für Daten, die zu Zwecken der Immigrationskontrolle verarbeitet werden. „Es ist frappant“, bedauert Maike Bohn von « the3Million ». „Jedem, der Teil eines Einwanderungsverfahrens ist – und sei es nur eine Visa-Anfrage – soll das Recht auf Dateneinsicht verwehrt werden.“ Sogar Anwälte könnten so nicht auf die Daten ihrer Mandanten zugreifen, somit können (Fehl-)Entscheidungen der Behörden nicht angefochten werden. Und die Fehlerrate sei gewaltig, betont Maike Bohn. Genau das würden nicht zuletzt die Windrush-Enthüllungen zeigen.
Wird die Ausnahme im Gesetz übernommen, so werden auch EU-Bürger die Konsequenzen tragen. Denn das gesonderte Antragsverfahren, das zur Zeit ausgearbeitet wird, erleichtert zwar die Bürokratie, doch bildet es keine Ausnahme – von der Ausnahme. „Wenn also ein EU-Bürger seinen Antrag stellt, und dieser wird abgelehnt, weil zum Beispiel auf einem Dokument ein falscher Name vermerkt war, dann kann der Betroffene diesen nicht nachweisen“, unterstreicht Maike Bohn. „Es gibt absolut keine Transparenz.“
Verstoß gegen Grundrechte
Das Paradox: Die GDPR soll eigentlich fundamentale Menschenrechte zementieren. Doch der britische Gesetzesvorschlag hat genau den gegenteiligen Effekt. Nicht nur setzt er die GDPR nur unzureichend um, sondern unterminiert sogar noch das Recht auf Datenschutz. In der Charta der Grundrechte der EU etwa heißt es, dass jede Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten hat, sowie das Recht, „Auskunft über die sie betreffenden erhobenen Daten zu erhalten und die Berichtigung der Daten zu erwirken.” Auch die europäische Menschenrechtskonvention erwähnt das Recht auf Achtung des Privatlebens. Die Gesetzesausnahme verwehrt also Immigranten und all jenen mit unklarem Status fundamentale Grundrechte.
Wird die Ausnahme ins Gesetz übernommen, wird « the3Million » gegen die Regierung Klage einreichen, bestätigt Maike Bohn. Ein entsprechender Rechtsbrief wurde bereits verschickt. Zum jetzigen Zeitpunkt hat die Organisation noch die Möglichkeit, den Fall vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen, handelt es sich doch nicht zuletzt auch um einen Verstoß gegen geltendes EU-Recht. Nach der Ende 2020 auslaufenden Brexit-Übergangsphase ist das nicht mehr möglich.
Zum einen hat die EU-Grundrechtcharta für Großbritannien dann nur noch wenig Belang. Sie wird wohl nicht in die nationalen Gesetze übertragen und damit fällt auch das in ihr so ausdrücklich beschriebene Recht auf Datenschutz weg. Auf der anderen Seite gibt es dann keine Möglichkeit mehr, sich an den Europäischen Gerichtshof zu wenden. „Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass britische Gerichte sich in einem solchen Fall auf dessen Jurisprudenz beziehen“, bestätigt Benjamin Ward von Human Rights Watch.
Die Immigrationsklausel im britischen Datenschutzgesetz jedoch wird bleiben, wenn das Gesetz in seiner heutigen Fassung verabschiedet wird. Es deutet sich an: Auch an den Menschenrechten wird der Brexit nicht spurlos vorbeiziehen.