Ein Büro im beschaulichen Beckerich, luxemburgische Scheinfirmen und ein belgischer Spezialist des „Karussellbetrugs“: REPORTER liefert bisher unbekannte Einblicke in das Innere einer kriminellen Vereinigung, die den deutschen Staat um Millionen brachte.

Eine Durchgangsstraße im beschaulichen Beckerich. Der moderne Anbau eines Einfamilienhauses verschwindet fast hinter einem Baum. Die Geschäfte, die dort vor fast zehn Jahren abliefen waren spektakulär aber blieben lange im Verborgenen. Es war das Büro des Belgiers Cédric G.

Er betrieb dort den Knotenpunkt eines kriminellen Netzwerks, das grenzüberschreitend agierte und Millionen Euro durch „Karussellbetrug“ mit Intel-Prozessoren, Nintendo-Wii-Konsolen und CO2-Zertifikaten erbeutete. In Deutschland wurde Cédric G. zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und 10 Monaten verurteilt, in Belgien zu 18 Monaten.

REPORTER sah Dokumente ein, die zeigen, wie er die Lieferketten organisierte und Strohmänner dirigierte. Und den Betrug immer weiter drehte. Grand Theft Europe ist eine europäische Recherche, koordiniert durch das Recherchezentrum CORRECTIV. Es geht um den größten Steuerraub Europas (zum Dossier).

Akt I: Die „Belgian Connection“

Seit 1997 betätigte sich der Belgier als Selbstständiger und hatte mehrere Firmen. Doch der geschäftliche Erfolg blieb aus. 2004 wird G. zeitgleich „administrateur-délégué“ von zwei Firmen. Ab 2005 sind beide offiziell in Beckerich angesiedelt. Es war der erste Schritt in Richtung Steuerbetrug.

Dazu braucht es vor allem eine Kette an Scheinfirmen. Die beiden Firmen „Intellicom Management SA“ und „Bell Trask SA“ waren bereits im Dunstkreis von zwei weiteren Belgiern, die zusammen mit G. spätestens ab 2007 eine kriminelle Organisation leiteten. Das war die Schlussfolgerung der belgischen Richter 2015.

Zu dieser Gruppe gehört auch Olivier P., den G. als Manager von Intellicom ablöste. P. ist eine schillernde Persönlichkeit: In den Neunzigern war er einer der Vertrauten des russischen Waffenhändler Viktor Bout, bekannt aus dem Film „Lord of War“.

Der „Mastermind“ der Gruppe war Paul H., Codename „Rolex“. Er gilt als Spezialist einer weiterentwickelten Form von Karussellbetrug, die auf gefälschten Rechnungen basiert. Der Vorteil aus Sicht der Betrüger: Wenn die Steuerbehörden die Firmen kontrollieren, sehen sie Rechnungen, die ehrliche Geschäfte vorgaukeln. Der sogenannte „fehlende Händler“ („missing trader“), der die Mehrwertsteuer hinterzieht, bleibt länger unentdeckt.

Akt II: Beuteträchtige Excel-Tabellen

Für Paul H. und Olivier P. richtete er zwei Scheinfirmen in Deutschland ein. Mit seiner Firma „Bell Trask“ in Beckerich saß G. an einer Schaltzentrale des Betrugs. Er handelte – auf dem Papier – in großem Umfang mit Intel-Prozessoren und Nintendo Wiis und belieferte die deutschen Scheinfirmen.

Diese „fehlenden Händler“ ersetzten die Rechnungen aus Luxemburg durch gefälschte mit deutschen Firmen. Das Ziel: Sie gaben vor, mit Mehrwertsteuer zu kaufen und ohne zu verkaufen. So konnten sie jeweils die 19 Prozent an deutschen Steuern erbeuten, die sie auf dem Papier nie erhalten hatten.

Palais de Justice in Brüssel
2015 standen acht Personen in Brüssel vor Gericht wegen dem Steuerbetrug mit Elektronik, darunter auch Cédric G. (Foto: Shutterstock)

Die drei Männer planten die Transaktionen akribisch mit Excel-Tabellen, damit die gefälschten Rechnungen auch die richtigen Beträge und Stückzahlen enthielten. Sie sprachen sich über Chats ab – Cédric G. mit dem Alias „Crazy Indian“. Mal lieferte die Beckricher Firma 500 Nintendo-Konsolen, mal 1.000 Computerchips.

In den Tabellen war auch die Beute aus der Staatskasse kalkuliert – für jede einzelne Lieferung und mit zwei Stellen hinter dem Komma. Die Umsätze waren hoch: Die Gruppe rechnete für eine ihrer neun Firmen mit einem Gewinn von knapp 600.000 Euro – in einem Monat.

Cédric G. war anfangs im mittleren Management der Betrugskette. Der Gewinn, der dabei für ihn abfiel, reichte ihm allerdings nicht. Er wollte mehr, kopierte das Konzept und führte die Masche ab 2008 parallel auf eigene Rechnung durch.

Akt III: Die Ermittler hören mit

Cédric G. war nun voll im Rennen. Er stieg mit seiner zweiten Firma Intellicom in den CO2-Handel ein. Ob unter Beteiligung oder Anleitung von Olivier P. hat die Justiz nie geklärt.

Anfang 2009 war es der heiße Insider-Tipp unter den Karussellbetrügern. G. beantragte Konten zum Emissionshandel in mehreren Ländern, darunter Luxemburg. Er rekrutierte einen britischen Bauarbeiter als Strohmann – auf dem Papier leitete dieser die deutsche Firma Eco Green. G. stellte ihm einen Aufpasser zur Seite, der jeden Schritt des Briten dirigierte, denn dieser verstand weder Deutsch noch die Geschäfte. Intellicom präsentierte sich als respektable Tradingfirma, mit Sitz in Saarbrücken. Doch das saarländische Büro war rein virtuell und diente nur dazu, die deutsche Mehrwertsteuer abzugreifen.

Im April 2009 läuft das Geschäft mit „Bell Trask“ auf Hochtouren, die Intellicom startet in den CO2-Handel. Cédric G. wollte sich offensichtlich etwas gönnen, nämlich einen Mercedes-AMG C 63 (von 0 auf 100 km/h in 4,1 Sekunden, damaliger Wert: 60.000 Euro).

Doch wenig später zog sich das Netz zu: In Deutschland waren Steuerfahnder auf die bizarren Geschäfte der Lieferkette rund um Intellicom aufmerksam geworden. Parallel begannen die Ermittlungen der belgischen Justiz. Der Grund waren verdächtige Überweisungen zwischen den Konten von G., seinen Firmen Intellicom und Bell Trask sowie seiner Lebensgefährtin C.

Ende 2009 fiel den deutschen Ermittlern auf, dass im CO2-Fall die gleichen Personen involviert waren wie im Karussell mit Intel-Chips und Konsolen. Die belgische Polizei überwachte zudem das Telefon von G. und hörte mit, wie er den Betrug mit Intellicom organisierte. Europol ermittelte inzwischen gegen G. wegen des Verdachts auf Geldwäsche.

Akt IV: Zeit zum Abkassieren

Doch die schwierigen und zeitraubenden Ermittlungen ließen den Betrügern Zeit zum Absahnen. Die Masche mit den Intel-Chips und Konsolen lief weiter bis 2011 – mit einem Schaden von mindestens sechs Millionen Euro. Die internationale Bande, mit der die Belgier zusammenarbeiteten, erbeutete insgesamt 60 Millionen Euro, berichtet das « Handelsblatt ». 400.000 Euro der Gewinne aus dem Betrug mit den Elektronikprodukten landeten auf dem persönlichen niederländischen Konto von Cédric G.

Allein betrieb er seinen betrügerischen CO2-Handel bis März 2010. Der Schaden für den deutschen Staat erreichte elf Millionen Euro. Davon flossen mindestens eine Million Euro auf das private Bankkonto von G. in den Niederlanden. Doch er verfügte ebenfalls über Konten in Montenegro und in Bulgarien. Welche Summen er dort verschwinden ließ, ist unbekannt.

Im Juni 2009 wurde der Betrug mit CO2-Zertifikaten in Frankreich öffentlich. G. bereitete deshalb bereits das nächste Karussell vor, diesmal im Strommarkt: Er erhielt im August 2009 in Deutschland eine Kennung für den Energiehandel, einen EIC-Code. Allerdings ist nicht klar, ob er auf diesem Markt tatsächlich aktiv wurde.

Das mit dem CO2-Betrug erbeutete Geld setzte G. zum Teil in Luxemburg ein. Er schickte seine Partnerin als Strohfrau vor: Sie übernahm im April 2010 eine Luxemburger Holding. Das Kapital stammte von der Intellicom.

Es war eine Allzweckwaffe für den Karussellbetrug: Das Unternehmen sollte mit Energie, Elektronik und Edelmetallen handeln. Alles Waren, die typischerweise dazu dienen, dem Staat in die Tasche zu greifen. Es war der sehr auffällige Versuch, noch mal abzukassieren.

Akt V: Das Ende des schönen Lebens

Tatsächlich griffen die belgischen Ermittler im April 2009 erstmals zu: Sie durchsuchten das Haus, in dem Cédric G. und seine Partnerin lebten. Und ihr Verdacht erhärtet sich: Die Polizisten entdeckten Hinweise auf einen Steuerbetrug, aber auch auf die Beziehungen zwischen G. und Olivier P.

Wenige Wochen später flüchtete Cédric G. nach Bulgarien. Das hielt ihn aber nicht davon ab, seine Geschäfte in Luxemburg weiter zu organisieren. Zumindest versuchte er sie abzusichern, indem er Offshoregesellschaften als Geschäftsführer seiner Firmen einsetzte. Doch das Büro in Beckerich verließ er.

Innerhalb der Bande wurde es ungemütlich. Es ging ums blanke Überleben. Die belgischen Ermittler hörten in den Telefonaten Drohungen. Im Dezember 2011 waren zwei Killer auf dem Weg zu Olivier P. Ihn rettete, dass die Polizei in einem Chat vom Auftrag erfuhren und P. warnten.

Im Juli 2012 wurde G. in Bulgarien aufgrund eines belgischen Haftbefehls festgenommen. Die Zustände in der Untersuchungshaft waren grausig: überfüllte Zellen und ein gewaltgeladenes Klima. Einen Monat später wurde er nach Belgien transferiert, dann nach Deutschland. 2014 wurde er in Hamburg wegen des CO2-Betrugs zu sechs Jahren und 10 Monaten verurteilt.

Heute ist Cédric G. auf freiem Fuß – genau wie H. und P. Er hatte Glück: Die belgischen Richter senkten die deutsche Haftstrafe von fast sieben auf fünf Jahre und die Untersuchungshaft seit 2012 wurde angerechnet. Nur den Mercedes AMG, den durfte er nicht behalten.


Das Projekt Grand Theft Europe

Für das Rechercheprojekt ​Grand Theft Europe​ hat sich REPORTER mit 35 vom Recherchezentrum CORRECTIV koordinierten Medienpartnern aus ganz Europa vernetzt. Gemeinsam hat das Netzwerk Umsatzsteuerkarusselle durchleuchtet, den größten laufenden Steuerbetrug in der EU. Die Recherche hat zu zahlreichen Artikeln, einem Podcast und mehreren TV-Dokumentationen geführt. Beteiligt waren unter anderem ZDF und CORRECTIV aus Deutschland, « Libération » aus Frankreich, « De Tijd » aus Belgien und « Republik » aus der Schweiz.

Das ZDF zeigte die Dokumentation « Der große Betrug: Wie Kriminelle und Terroristen Europa plündern » am Dienstag, 7. Mai 2019. Sie ist online verfügbar.

Mehr zum Projekt: ​www.grand-theft-europe.com

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