Mindestens 200 Millionen Frauen und Mädchen weltweit wurden Opfer einer Genitalverstümmelung. Durch Migration leben auch immer mehr betroffene Frauen in Luxemburg. Eine Mischung aus Tabuisierung, Scham und Unkenntnis sorgt jedoch für Unsicherheit im Umgang mit ihnen.

„Manchmal sehe ich es kaum und manchmal ist die Haut voller harter Narben und nur noch ein enger, bis auf ein kleines Loch zugenähter Scheideneingang übrig.“ Bei Routineuntersuchungen mit weiblicher Genitalverstümmelung konfrontiert zu werden, ist für Michel Clees keine Seltenheit mehr. Etwa 20 Patientinnen, die beschnitten wurden, würden seine Praxis regelmäßig aufsuchen, so der Gynäkologe aus Esch/Alzette.

„Ich spreche die Frauen immer direkt darauf an“, sagt Michel Clees. „Die meisten sind traumatisiert, wurden im Kindesalter beschnitten und haben bis heute mit den Folgen zu kämpfen.“ Der Mediziner erzählt von der Melancholie der Frauen, die es oft nicht schaffen, diese Tradition vehement zu verwerfen. Sie würden sich als Verräterinnen fühlen, wenn sie über ihre Demütigung und Verstümmelung reden müssten.

Seltsam ist für den Gynäkologen vor allem, dass das Ritual von den Frauen selbst praktiziert wird und dass « betroffene Frauen weltweit ihren eigenen Töchtern wohl nicht gönnen können, nicht durch dieses Martyrium gehen zu müssen ». Michel Clees glaubt, dass das Thema in Luxemburg vor allem auch innerhalb der Ärzteschaft noch weitgehend ein Tabu ist. Und, dass die mit Genitalverstümmelung zusammenhängenden Problematiken unterschätzt werden. „Wir alle sind den vor allem psychologischen Aufgaben nicht gewachsen. Es ist eine riesige Aufgabe.“

Scham, Demütigung und Erklärungsnot

Die verbreitete Hilflosigkeit und Überforderung bestätigt auch Anaïs Lazzara: „Oft entdecke ich oder eine meiner Kolleginnen erst im Kreißsaal bei der Geburt, dass eine Frau beschnitten ist“, erzählt die Hebamme aus dem « Centre hospitalier Emile Mayrisch » (CHEM). „Behandelnde Ärzte informieren uns oft nicht, vermerken es nicht einmal in der Akte der Patientin“. Dabei brauche es bei Geburten von betroffenen Frauen besonders viel Zeit, Vorsicht und Fürsorge, da es leicht zu Komplikationen kommt.

Wir träumen von einem Gesundheitszentrum für Opfer von sexueller oder geschlechtsspezifischer Gewalt, in dem die Patientinnen alle Ansprechpartner an einem Ort vorfinden. »Catherine Chery, « Planning familial »

Auch Anaïs Lazzara spricht von Scham, Demütigung und Erklärungsnot, mit denen die Frauen zwangsläufig konfrontiert seien. Doch es gebe auch jene, die sich trauen, ihre Erfahrungen anzusprechen und versuchen, sie zu überwinden. Erst vor wenigen Tagen hatte die Hebamme, die auch ausgebildete Sexologin ist, eine Frau in ihrer Sprechstunde, die über eine Rekonstruktionschirurgie nachdenkt. Große Schmerzen beim Wasserlassen, während der Menstruation sowie beim Geschlechtsverkehr würden nicht nur sie allein, sondern ihre Partnerschaft stark belasten.

Auch wenn eine Rekonstruktion die betroffenen Nervenzellen kaum wiederherstellen kann, ist Anaïs Lazzara überzeugt: „Wenn dadurch Schmerzen gelindert werden und den Frauen ihr Körper- und Selbstwertgefühl zumindest zu einem gewissen Grad wiedergegeben werden kann, sollten alle betroffenen Frauen die Möglichkeit bekommen, sich dieser Operation zu unterziehen.“ In Luxemburg gibt es jedoch keine darauf spezialisierte Chirurgie, der Eingriff wäre zwangsläufig mit einer Überweisung ins Ausland verbunden. Das mache die Lage noch komplizierter für die betroffenen Frauen, sagt Anaïs Lazzara.

Verbreitung trotz Verbote

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass es weltweit mehr als 200 Millionen beschnittene Mädchen und Frauen gibt. Jährlich erleiden etwa drei Millionen Mädchen, die meisten im Kleinkindalter, eine Genitalverstümmelung. Die WHO definiert weibliche Genitalverstümmelung als „teilweise oder vollständige Entfernung äußerer weiblicher Genitalien oder andere Verletzungen der weiblichen Geschlechtsorgane zu nicht-medizinischen Zwecken“.

„Infibulation“ gilt als die schwerste Form weiblicher Genitalverstümmelung und wird vor allem in Gemeinschaften praktiziert, die den Wert von Frauen an ihrer Jungfräulichkeit festmachen. Das gesamte Genital wird entfernt und die Wunde bis auf ein kleines Loch zugenäht. Bisher ist dokumentiert, dass die weibliche Genitalverstümmelung in 31 Ländern Afrikas, auf der Arabischen Halbinsel, sowie in einigen Ländern Asiens und Südamerikas durchgeführt wird. Durch Migration ist weibliche Genitalverstümmelung allerdings weltweit verbreitet.

Luxemburgs Entwicklungshilfe unterstützt mit der « Fondation Follereau » und « Padem » zwei Organisationen, die sich durch Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen gegen weibliche Genitalverstümmelung auf dem afrikanischen Kontinent einsetzen. (Foto: Padem)

Die Vereinten Nationen haben 2012 den 6. Februar zum Internationalen Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung erklärt. Per Resolution wurden alle Mitgliedstaaten verpflichtet, Gesetze gegen weibliche Genitalverstümmelung zu erlassen und zur Abschaffung beizutragen. Doch trotz Verbot gelingt es vor allem in afrikanischen Ländern, etwa in Eritrea, Äthiopien, Sierra Leone oder dem Sudan, bis heute nur bedingt, gegen dieses Ritual vorzugehen. Die Beschneidung wird oft im frühen Kindesalter vorgenommen, da die Taten so leichter geheim gehalten werden können und eine strafrechtliche Verfolgung umgangen wird.

Luxemburgs Engagement im Ausland

Auch in Europa hat es in den letzten Jahren einige Gerichtsverfahren wegen weiblicher Genitalverstümmelung gegeben, zu einer Verurteilung ist es jedoch nur in den seltensten Fällen gekommen. In Luxemburg gab es bis heute noch kein Verfahren wegen weiblicher Genitalverstümmelung. Im Zuge des Gesetzes zur Ratifizierung der Istanbuler Konvention von 2018 wurde Luxemburgs Strafgesetzbuch angepasst und weibliche Genitalverstümmelung unter eine Strafe von bis zu 15 Jahren Haft gestellt.

Luxemburgs Entwicklungshilfe unterstützt zudem maßgeblich zwei Nichtregierungsorganisationen, die sich durch Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen gegen weibliche Genitalverstümmelung auf dem afrikanischen Kontinent einsetzen. Die Fondation Follereau wird am kommenden 3. Februar einen Rahmenvertrag in Höhe von zehn Millionen Euro mit dem Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit unterschreiben. Knapp eine halbe Million Euro soll in Projekte zur Bekämpfung weiblicher Genitalverstümmelung in Mali und Burkina Faso fließen.

Die Nichtregierungsorganisation Padem erhält im Zeitraum 2020-2023 etwas mehr als drei Millionen Euro, wovon etwa eine halbe Million in die Sensibilisierungsarbeit gegen weibliche Genitalverstümmelung im Senegal investiert wird. Außerdem unterstützt Luxemburg das weltweit bekannte Frauen- und Kinderkrankenhaus von Dr. Denis Mukwege in der Demokratischen Republik Kongo mit knapp fünf Millionen Euro. Das Krankenhaus verfolgt einen holistischen Ansatz und ist auf die Behandlung der Folgen weiblicher Genitalverstümmelung sowie auf Rekonstruktionschirurgie spezialisiert.

Asylgesetz garantiert besonderen Schutz

Frauen, die Opfer von Genitalverstümmelung wurden, finden darüber hinaus auch im nationalen Asylgesetz spezielle Beachtung. Betroffene zählen zu den „vulnerablen Personen“, auf deren „spezielle Bedürfnisse“ im Asylverfahren besonders geachtet werden soll.

Eritrea steht in den Statistiken über die Herkunftsländer der Asylbewerber in Luxemburg mittlerweile an zweiter Stelle. 141 Menschen aus dem ostafrikanischen Land haben im letzten Jahr in Luxemburg einen Antrag auf Asyl gestellt (Stand November 2020). In Eritrea werden mehr als 80 Prozent der Frauen und Mädchen beschnitten, 60 Prozent von ihnen vor ihrem 5. Lebensjahr, 20 Prozent im ersten Lebensmonat. Die Flüchtlingsströme vor allem aus Zentral- und Ostafrika weisen darauf hin, dass die Zahl der betroffenen Frauen auch hier im Land in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird.

Wir alle sind den vor allem psychologischen Aufgaben nicht gewachsen. Es ist eine riesige Aufgabe. »Michel Clees, Gynäkologe

Seit einigen Jahren haben die Immigrationsbehörde und bestimmte Hilfsorganisationen begonnen, ihr Personal zu sensibilisieren und Fortbildungen anzubieten. In Seminaren werden Mitarbeiter über soziale, kulturelle, medizinische, psychologische sowie juristische Aspekte im Zusammenhang mit der Genitalverstümmelung informiert und für den Umgang mit betroffenen Frauen sensibilisiert.

„Ich arbeite seit 16 Jahren in der Sozialarbeit, noch nie hat mich eine Fortbildung so geprägt wie diese“, gesteht Jérémie Langen. „Man glaubt zwar, das Thema zu kennen, aber betroffene Mädchen und Frauen zu betreuen, ist noch einmal etwas ganz anderes“, so der stellvertretende Leiter der Abteilung „Sensibilisierung und Integration“ der Caritas.

Zwischen Theorie und Hilfe in der Praxis

„Wir träumen von einem Gesundheitszentrum für Opfer von sexueller oder geschlechtsspezifischer Gewalt, in dem die Patientinnen alle Ansprechpartner an einem Ort vorfinden“, sagt Catherine Chery. Die Direktorin des « Planning familial » erkennt zwar eine aufkommende Dynamik. Sie bemängelt jedoch, dass diese sich bisher eher in Einzelinitiativen als in einer umfassenden Strategie mit der Einbindung aller Akteure äußere.

„Wir können den betroffenen Frauen theoretisch helfen, von der Aufklärung über psychologische Unterstützung und gynäkologische Untersuchungen bis hin zu Überweisungen zu Rekonstruktionschirurgen ins Ausland“, führt Catherine Chery aus. Doch fehle es an Ressourcen, Aufklärung und Kommunikation. Bis mehr betroffene Frauen bereit sind, überhaupt Hilfe in Anspruch zu nehmen, sei es noch ein langer Weg, der viel Mut von den Betroffenen und Fingerspitzengefühl von den Betreuenden verlange.