Luxemburg wolle keine schutzbedürftigen Asylbewerber mehr nach Italien ausweisen, sagt Jean Asselborn. Doch wer als schutzbedürftig gilt, wird von Fall zu Fall entschieden. Anwälte beklagen die mangelnde Rechtssicherheit und warnen vor den Folgen für die Betroffenen.
« Allein der Gedanke, dass sie nach Italien zurückmüssen, traumatisiert die Asylsuchenden », sagt Ambre Schulz von « Passerell », einem Verein, der sich für ein humaneres Asylrecht einsetzt. Die Rede ist von sogenannten Dublin-Fällen. Von Migranten, die in Luxemburg internationalen Schutz suchen, aber bereits in Italien einen Antrag gestellt haben – dem Ort, an dem sie, oft nach traumatischen Erlebnissen erstmals europäischen Boden erreichen.
« Die Menschen sind psychisch instabil. Viele wurden in Libyen gefoltert, die Frauen vergewaltigt. In Italien landen sie meist auf der Straße, haben keinen Zugang zu medizinischer Betreuung. » Im Rahmen der Dublin-Prozedur ist Italien, nicht Luxemburg für die Asylprozedur zuständig: Ihnen droht demnach die Ausweisung.
Doch Italien sei schon lange kein sicheres Land mehr für Asylsuchende, sagen Nichtregierungsorganisationen und internationale Organisationen. Sie warnen vor systemischen Mängeln, Verletzungen der Grundrechte und einer menschenunwürdigen Behandlung von Migranten. Unter dem ehemaligen Innenminister Matteo Salvini hat Italien seine Gesetze gegen Asylsuchende und jene, die ihnen helfen, weiter verschärft. So haben Schutzsuchende etwa kein Recht auf eine Unterkunft, nachdem sie Italien einmal verlassen haben. Doch sie brauchen eine Adresse, um den Stand ihrer Prozedur zu erfahren.
Die UN-Menschenrechtsagentur OHCHR weist regelmäßig auf die problematischen Zustände und die restriktive Gesetzeslage hin. Dass Luxemburg weiterhin unter solchen Bedingungen Schutzsuchende zurückschickt, sei « ein absoluter Skandal », sagt die Anwältin Françoise Nsan-Nwet im Gespräch mit REPORTER. Auch Nichtregierungsorganisationen fordern die hiesige Regierung seit Monaten dazu auf, die Dublin-Transfers nach Italien auszusetzen.
Keine Schutzbedürftigen nach Italien
Um viele Menschen geht es dabei nicht. Die Immigrationsbehörde hat dieses Jahr bisher insgesamt 249 Transfers im Rahmen der Dublin-Prozedur veranlasst. 49 von ihnen mussten zurück nach Italien (Stand August). « Es ist kein riesiges Phänomen », heißt es aus dem Außenministerium.
Dennoch: Bereits im Oktober letzten Jahres sagte Jean Asselborn, dass verschiedene Dublin-Fälle aus « humanitären Gründen » nicht ausgewiesen würden. Im Februar reagierte er nochmals auf den Druck hiesiger NGOs. Er kündigte an, dass keine Schutzbedürftigen (personnes vulnérables) mehr nach Italien zurückgeschickt würden. Vergangene Woche versicherte der Minister im Gespräch mit « Radio 100,7 » ein weiteres Mal: « En âme et conscience » würde man keine Schutzbedürftigen ausweisen. Und jenen, die nicht darunter fallen, solle die Botschaft in Rom weiterhelfen, sagte Asselborn im Februar. Doch dieser Vorsatz lässt sich in der Praxis nur schwer umsetzen.
Die Aussage von Herrn Asselborn klingt schön, ist in der Praxis aber arbiträr. »Frank Wies, Anwalt für Asylrecht
Alles steht und fällt schon mit der Definition. Wer gilt als « schutzbedürftig » und wer nicht? Nach welchen Kriterien werden Entscheidungen getroffen? In der Dublin-Regulation ist keine Definition festgehalten, wissen auch die zuständigen Behörden. « Dublin ist schließlich ein Mechanismus, der festlegt, wer für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist », erklärt ein zuständiger Beamter.
Eine Frage der Definition
Auch jene Definition, die im Luxemburger Einwanderungsgesetz von 2015 festgeschrieben ist, muss im Rahmen der Dublin-Transfers nicht angewendet werden, bedauern Anwälte. Das Gesetz bezieht sich nämlich auf die Aufnahme von Antragstellern, nicht auf deren Ausweisung.
Neben Minderjährigen gelten laut dem Gesetz als schutzbedürftig: « les handicapés, les personnes âgées, les femmes enceintes, les parents isolés accompagnés d’enfants mineurs, les victimes de la traite des êtres humains, les personnes ayant des maladies graves, les personnes souffrant de troubles mentaux et les personnes qui ont subi des tortures, des viols ou d’autres formes graves de violence psychologique, physique ou sexuelle, et plus particulièrement les victimes de mutilation génitale féminine. »
In der Praxis aber entscheide man im Rahmen der Dublin-Prozedur von Fall zu Fall, wer als schutzbedürftig angesehen wird, bestätigt die Immigrationsbehörde. Anhaltspunkte liefert insbesondere die Untersuchung durch die Gesundheitsinspektion, der sich alle Asylsuchenden unterziehen müssen. Hinzu kommen Interviews mit den Behörden sowie Mitarbeiter des Integrationsamtes OLAI. Insbesondere Frauen, Familien und Kinder würden nicht ausgewiesen werden, so ein mit dem Dossier vertrauter Beamter.
Macht ein Asylsuchender gesundheitliche Einwände geltend, so stellt ein von der Einwanderungsbehörde entsandter Arzt oder Psychiater ein Gutachten aus. « Wir schauen dann, was ihnen fehlt, ob sie im Zielland behandelt werden können und ob wir ihnen etwa Medikamente mitgeben können », erklärt Dr. Pierre Weicherding von der Gesundheitsinspektion.
Anwälte beklagen Mängel
Anwälte beklagen jedoch, dass manche Schutzbedürftige durchs Raster fallen. « Die Aussage von Herrn Asselborn klingt schön, ist in der Praxis aber arbiträr », bemängelt etwa Anwalt Frank Wies. Wer schutzbedürftig sei, entscheide sich « à la tête du client », so der unter anderem in Ausländer- und Asylrecht spezialisierte Jurist.
Françoise Nsan-Nwet meldet ähnliche Bedenken an. Physische Probleme festzustellen, sei eine Sache. Psychische Traumata zu erkennen, eine ganz andere. Zudem sei es schwer, diese zu beweisen. « Wie belegt man, dass man traumatisiert ist? Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand aufgrund eines Traumas nicht ausgewiesen wurde », fragt Frank Wies. Die zuständigen Behörden betonen ihrerseits, dass Anwälte oft Fälle anführen, bei denen von vorneherein klar sei, dass es sich eben nicht um Schutzbedürftige handelt.
Man brauche dringend eine rechtlich bindende Definition, auf die man sich auch bei Dublin-Transfers berufen könnte, fordert daher Frank Wies. Er macht auch auf ein weiteres Problem aufmerksam: So untersuche die Gesundheitsinspektion lediglich, ob es die Behandlung, die der Asylsuchende benötigt, in Italien gibt. Nicht aber, ob letzterer Zugang dazu hat.
« La priorisation d’un certain contentieux des étrangers contient […] le germe d’un risque de dévalorisation professionnelle des magistrats appelés à en connaître, ce genre de dossiers se caractérisant en général par un caractère itératif et lassant. »Jahresbericht des Justizministeriums
Ambre Schulz vom Verein « Passerell » erzählt etwa von der Ausweisung eines schweren Diabetikers. Natürlich gebe es in Italien die nötigen Medikamente. Doch in Italien angekommen hatte der Schutzsuchende weder eine Unterkunft, noch Zugang zur italienischen Gesundheitsversorgung.
Die zuständigen Behörden in Luxemburg verweisen indes auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen Mitgliedsstaaten. Sie könnten demnach nicht anzweifeln, ob Italien den Zugang zur Versorgung verwehrt.
Probleme mit dem Verwaltungsgericht
Ist die Ausweisung einmal beschlossene Sache, bleibt den Betroffenen letztlich nur die Möglichkeit, Berufung vor dem Verwaltungsgericht einzureichen. Doch auch hier gibt es Hürden. Die Beschwerde ist zum Beispiel nicht aufschiebend. Es ist einer der Punkte, den die Regierung laut Koalitionsabkommen verbessern will – ein entsprechendes Gesetzesprojekt sei in Arbeit, sagt das Außenministerium.
Doch die Anwälte setzen ohnehin wenig Hoffnung in das Verwaltungsgericht « In 99 Prozent der Fälle ist das Gericht derselben Meinung wie das Ministerium. », sagt Frank Wies. « Viele Urteile sind Copy-und-Paste-Urteile. Uns wird das Gefühl vermittelt, dass wir die Richter stören », pflichtet Françoise Nsan-Nwet bei. Sie betont: Die Schutzbedürftigkeit sei bisher in keinem Richterspruch erwähnt worden. « Jean Asselborns Aussage hat in der Praxis keinen Bestand. »
Viele Entscheidungen seien nicht nachzuvollziehen. So hat das Verwaltungsgericht etwa im März letzten Jahres eine Ausweisung annulliert. Der Richter erkannte an, dass es in Italien « des défaillances systémiques dans la procédure d’asile et les conditions d’accueil des demandeurs » gebe. Allerdings legte die zuständige Anwältin, Françoise Nsan-Nwet, hierzu die selben Beweise vor, wie bei allen Dublin-Ausweisungen nach Italien. Doch bei allen anderen Fällen erkannte das Gericht das Systemversagen nicht an.
Politisch motivierte Urteile
Dass aus diesem Einzelfall kein Präzedenzfall wurde, hat Gründe. Und zwar politische, sagt Frank Wies. « Würde Luxemburg auf einmal keine Dublin-Transfers nach Italien mehr veranlassen, ist Dublin gescheitert. Die restriktive Jurisprudenz des Verwaltungsgerichts erklärt sich auch dadurch ».
Im Außenministerium dementiert man den Vorwurf der politisch motivierten Urteile, weist aber auf die Wichtigkeit des Dublin-Verfahrens hin. « Man muss nicht vergessen, dass Dublin auch etwas Gutes hat, sorgt es doch dafür, dass alle Asylsuchende die gleichen Prozeduren unterlaufen », so ein Beamter. Das Gericht würde zudem eine gründliche Arbeit machen.
Fakt ist allerdings: Das Verwaltungsgericht sträubt sich seit längerem gegen die vielen Dublin-Fälle, wie auch « Radio 100,7″ kürzlich mit Bezug auf den im Februar erschienenen Jahresbericht der Justiz meldete.
Dort schreibt der Präsident des Gerichts, Marc Sünnen: « La priorisation d’un certain contentieux des étrangers contient, outre l’effet d’éviction que le soussigné a déjà été amené à dénoncer, encore le germe d’un risque de dévalorisation professionnelle des magistrats appelés à en connaître, ce genre de dossiers se caractérisant en général par un caractère itératif et lassant, suscitant chez bon nombre des magistrats un sentiment de répétitivité et d’ennui ».
Ein Kampf mit den Behörden
« Es ist zum Verzweifeln », beschreibt die Juristin Françoise Nsan-Nwet die Situation. « Als Anwälte haben wir das Gefühl gegen die Politik anzukämpfen. Und wir sind nicht naiv, wir wissen, dass es auch Missbräuche gibt. Aber in vielen Fällen geht es um das Schicksal von Schutzbedürftigen. Wir sind oft die einzige Ansprechperson, die sie haben. In Italien gibt es für sie überhaupt keine Betreuung. Dort stecken sie dann fest. »
Die Behörden lassen diesen Vorwurf nicht gelten. Dieses Jahr habe man bereits über 30 Auslieferungen nach Italien ausgesetzt. « Der Außenminister hat eine seriöse und zuvorkommende Geste gemacht. Das passiert nicht alle Tage », betont ein Beamter, der mit dem Dossier vertraut ist. Zudem zeige etwa ein Entscheid des EU-Gerichtshof von März, dass ein Abschiebungsverbot nur bestehe, wenn in dem anderen Land eine unmenschliche und extreme materielle Not drohe. Dass das in Griechenland der Fall ist – darüber herrscht in der EU Konsens. Bei Italien ist das nicht so.
Auch die zuständige Botschaft kann vor Ort nur bedingt helfen. Sie habe zwar inzwischen ein Dokument erstellt, mit Adressen, wo die Asylsuchenden Unterkunft und Hilfe erhalten können. Dieses ist allerdings auf italienisch – eine Sprache, die viele Asylsuchende nicht beherrschen.