Seit Beginn der Pandemie sind in Seniorenresidenzen in Ostfrankreich laut offizieller Statistik 570 Menschen gestorben, zwei Drittel davon im Elsass. Es ist eine Ausnahmesituation für alle Beteiligten. Besonders dramatisch ist die Lage in den Alten- und Pflegeheimen.

In der ostfranzösischen Region Grand-Est grassiert das Coronavirus so stark wie nirgendwo sonst in Frankreich. Nur im Raum Paris gibt es mittlerweile mehr Fälle. Die dramatische Lage zeigt sich besonders in den Altenheimen Ostfrankreichs: Nach kürzlich veröffentlichten Zahlen der regionalen Gesundheitsbehörde ARS sind dort im März 570 Frauen und Männer verstorben, 314 davon allein im Südelsass. In den direkt an Luxemburg angrenzenden Departements Moselle und Meurthe-et-Moselle starben jeweils 53 bzw. 16 Personen.

In den Heimen haben die zurückliegenden Wochen ihre Spuren hinterlassen, bedeutete die neue Lage doch mehr Arbeit für die einen und weniger Freiheiten für die anderen. Verantwortliche berichten von der „schwierigsten Aufgabe“ ihres Berufslebens, von körperlichen und psychischen Ausnahmezuständen. Sie klagen über Material- und Personalmangel und verwirrte und gestresste Bewohner. Angehörige erzählen, wie das Coronavirus das Abschiednehmen von Verstorbenen nahezu unmöglich machte.

Fälle habe es in zwei Drittel der ostfranzösischen Seniorenresidenzen gegeben, teilte die Gesundheitsbehörde mit. Seit Beginn der Corona-Krise sind demnach in den Heimen zahlreiche Vorkehrungen getroffen worden. Um die „Gesundheit der Bewohner zu schützen“ gelten strenge Hygienevorschriften, wurden Besuche verboten. Bewohner müssen Abstand halten, dürfen sich nicht mehr frei bewegen.

Zwischen Überlastung und Hilflosigkeit

Bei unklaren Lagen wie Infektionsfällen müssen die Bewohner komplett auf ihren Zimmern verbleiben. Infizierte werden in Krankenhäuser eingewiesen, mit ihnen in Kontakt geratene Bewohner und Mitarbeiter 14 Tage lang isoliert. Zur Unterstützung werden Krankenschwester-Schüler und andere Auszubildende herangezogen.

Doch das reicht offenbar nicht. „Wir fühlen uns hilflos“, sagt der Direktor eines Straßburger Altenheims am Telefon. „Das ist alles so schrecklich, dass ich weinen könnte“, sagt der 63-jährige Mann, der mehrere Jahrzehnte Berufserfahrung auf dem Buckel hat. Und dann weint er.

Vier Bewohner seines Heims seien bereits an den Folgen von Covid-19 Corona-Virus gestorben, berichtet er. Doch auch den meisten Verbliebenen gehe es schlecht. „Wir arbeiten hier gerade entgegen unseren Prinzipien.“ In normalen Zeiten könnten sich die Bewohner jederzeit treffen, austauschen, würden intellektuell stimuliert, berichtet der Leiter frustriert. „Und jetzt? Jetzt sitzen sie alle still in ihren Zimmern und starren die Wand an.“

Bewohner verstehen die Welt nicht mehr

Auch Michelle Baehr berichtet von einer Ausnahmesituation. Die Leiterin einer Senioren-Einrichtung in Rothau, einem Dorf auf halber Strecke zwischen Nancy und Straßburg, erzählt von Mehrarbeit für das Personal und Stress für die Bewohner. „Wir sind hier wir eine Familie, sind den ganzen Tag von früh bis spät zusammen.“ Im Heim gebe es fast nur Alzheimer- und Demenz-Kranke: „Wenn wir ihre Abläufe verändern, verlieren manche völlig den Halt.“

Schutz der Risikogruppen sowie psychische und physische Belastung des Personals: Die Covid-19-Pandemie trifft die Alten- und Pflegeheime der französischen Grenzregion besonders hart. (Symbolfoto: Shutterstock.com)

Im Fernsehen hörten die Bewohner das Wort Krieg und verstehen die Welt nicht mehr. „Gegen wen sind wir im Krieg?“, fragten sie dann. „Gegen einen Virus?“ Michelle Baehr berichtet von „in den Gängen umherirrenden Menschen, denen die Angst ins Gesicht geschrieben steht“. Sie und ihre Mitarbeiter könnten nur versuchen zu beruhigen, Halt zu geben. Dabei hätten sie selbst Angst vor Ansteckung, gesteht die 64-jährige Heimleiterin. Masken gebe es schließlich kaum, sie hätten sich mittlerweile selbst welche geschneidert.

Auch ihm täten die weggesperrten Bewohner leid, erzählt Frédéric Vogler, Leiter eines Heims im 600-Einwohner-Dorf Petite Pierre, eine Autostunde südöstlich von Metz. „Die Tage sind lang.“ Viele würden den Ernst der Lage nicht verstehen, das Personal müsste alles immer wieder erklären. Das alles bedeute mehr Arbeit. Zum Glück hätten einige ihren Urlaub abgebrochen, auch seien Krankenschwester-Schülerinnen zur Hilfe geeilt. Ein Thema belastet ihn aber am meisten: „Besonders schwer für mich ist der Fakt, dass die Familien das Ableben ihrer Angehörigen nicht begleiten können.“

Corona verhindert das Abschiednehmen

Was das bedeuten kann, berichtet Jean-Pierre, ein Rentner aus einem Dorf am Fuße der Vogesen. Vater André, 91 Jahre, ist am vergangenen Dienstag in einem nahe gelegenen Heim verstorben. „Das letzte Mal habe ich ihn vor drei Wochen gesehen .“ Eine Woche später teilte ihm ein Mitarbeiter mit, dass im Heim mehrere Personen infiziert seien, darunter sein Vater. Und er sagte, dass er besser nicht mehr anrufen solle, man melde sich.

Am Dienstag kam dann der Anruf: André ist tot. Jean-Pierre fiel die Aufgabe zu, die restliche Familie zu informieren. Er habe sich sofort ins Auto gesetzt und sei zu seiner Mutter gefahren: „Ein schwerer Gang“. Es sei auch „hart“ gewesen, „nicht dabei sein zu dürfen“, schildert Jean-Pierre seine Empfindungen. „So kann ich nicht Abschied nehmen.“ Heute werde sein Vater beerdigt, den Sarg habe er im Internet ausgesucht. Die Totenmesse gebe es dann, „wenn das alles hier vorbei ist.“

Eine elsässische Bewohnerin berichtet, dass sie vom Ableben ihrer, im selben Heim lebenden, Schwägerin erst aus der Zeitung erfahren hat. „Dort, wo sie jetzt ist, geht es ihr sicher besser“, kommentiert die schwerhörige Frau das Schicksal der Schwägerin. Zuletzt habe diese von ihrer Umwelt schließlich nicht mehr viel mitgekommen. Sie selbst habe zwar sonst noch alle Sinne beisammen, nach draußen komme aber auch sie nicht mehr, Corona hin oder her.

« Wir sind nicht nur ein Ort zum Sterben »

In einigen anderen Heimen im Elsass ist die Stimmung offenbar weniger morbid. „Unsere Mitarbeiter sind ruhig und entspannt“, sagt Christian Lutz, Leiter eines Heims in Straßburg, in dem es bereits zwei Corona-Tote gab. „Ich versuche, den Angestellten ihre Schuldgefühle und ihr Empfinden von Machtlosigkeit zu nehmen.“ Jeden Morgen bietet er „für jeden, den es interessiert“ eine Entspannungsübung an.

Wir haben bei uns meist Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Letztlich sind wir aber doch kein Ort zum Sterben, sondern einer zum Leben. »Heimleiterin Annette Fritschmann

Auch Christian Lutz spricht von einer für die Bewohner schweren Lage: „Wir versuchen aber, es für sie so angenehm wie möglich zu gestalten.“ Wer es nicht aushalte im Zimmer, dürfe raus, „aber nur mit Mundschutz“. Und wenn jemand sterbe, könne die Familie „selbstverständlich“ trotzdem dabei sein.

Auch Annette Fritschmann, Leiterin zweier Heime südlich von Straßburg, setzt die Vorschriften aus Paris nicht eins zu eins um. Gegessen werde nach wie vor zusammen, „mit viel Abstand“. Wie in vielen anderen Einrichtungen könnten auch die Bewohner ihrer Heime über das Internet mit der Familie per Video-Telefonie in Kontakt bleiben.

Eine Psychologin hilft bei Fragen. Eine weitere Mitarbeiterin lässt sich Briefe diktieren und versendet Fotos an die Familien. „Sicher: Wir haben bei uns meist Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Letztlich sind wir aber doch kein Ort zum Sterben, sondern einer zum Leben!“