Die Nachverfolgung von Kontaktpersonen ist im Kampf gegen die Pandemie fundamental wichtig. Doch mit dem rezenten Anstieg der Infektionszahlen haben die Behörden die Kontrolle über das Contact-Tracing verloren. Damit droht die bisherige Strategie der Regierung zu scheitern.
« Wissen sie, warum wir anrufen? » Es ist eine der ersten Fragen, die die Mitarbeiter der Contact-Tracing-Abteilung stellen. Sie sollen untersuchen, wie eng der Kontakt zwischen einem Infizierten und der jeweiligen Person war, um bei Bedarf eine Quarantäne zu verordnen. So lief es zumindest bis vor kurzem ab. Denn die Anrufe von Kontaktpersonen werden weniger. Die Behörde wird dem Anstieg von Neuinfektionen nicht mehr gerecht.
Testen, isolieren, Kontakte konsequent nachverfolgen: Die Grundpfeiler der Regierungspolitik zur Bekämpfung der Pandemie gerieten in den letzten Wochen ins Wanken. Die Zahl der Infizierten steigt rasant – offenbar zu schnell für die Contact-Tracing-Abteilung der „Santé“. Die „Handarbeit“ wurde mittlerweile digitalisiert. Und die Bürger werden jetzt von der Regierung offiziell darum gebeten, ihre Kontakte selbst nachzuverfolgen.
Die neuen Empfehlungen sind letztlich ein Eingeständnis des Kontrollverlustes. Was angesichts hoher Covid-19-Fallzahlen offensichtlich wird: Die Behörde ist längst an ihre Grenzen gestoßen. Das Contact-Tracing ist kaum noch möglich. Das liegt allerdings nicht nur am Ausmaß der neuen Infektionswelle. Rückblickend wird klar, dass die Regierung die Lage und den Personalbedarf lange unterschätzt hat.
Kurzes Aufatmen dank Lockdown
„Es war reine Handarbeit“, beschrieb Jean-Claude Schmit das « Contact-Tracing » zu Beginn der Pandemie. Nur zehn Personen arbeiteten damals in der Abteilung des Ministeriums, die sich um die Nachverfolgung jener Menschen kümmert, die dem Coronavirus Sars-CoV-2 möglicherweise ausgesetzt waren. Heute sind es 180 Posten, die die Mitarbeiter in zwei Schichten besetzen.
Wenn eine gewisse Anzahl von Menschen in Isolation und das Virus weit verbreitet ist, macht die Nachverfolgung von Kontakten keinen Sinn mehr. »Jean-Claude Schmit, Directeur de la Santé
Als am 16. März der landesweite Lockdown in Kraft trat, konnte sich die für das Contact-Tracing zuständige Behörde etwas entspannen und auf andere Probleme eingehen. „Während des Lockdowns waren die Menschen faktisch isoliert, weil die Kontakte stark beschränkt wurden“, erklärt Jean-Claude Schmit diese Woche im Gespräch mit Reporter.lu. Man habe deshalb nur mit den Infizierten und deren Familien Kontakt aufgenommen, so der Direktor des Gesundheitsamtes.
Die Regierung zog die Notbremse, weil die Lage in den Krankenhäusern sich zunehmend verschlechterte. Das lag jedoch auch daran, dass die Labore des Landes unvorbereitet waren und das Contact-Tracing schon damals nicht mehr alle Infektionen rechtzeitig zurückverfolgen konnte. Die Situation war unübersichtlich und erst nachdem die Regierung Lockerungen des Ausnahmezustands ankündigte, nahm auch die Tracing-Abteilung der „Santé“ wieder volle Fahrt auf.
Allerdings wurden die Wochen des Lockdowns nicht genutzt, um eine neue Strategie für die Nachverfolgung von Kontakten auszuarbeiten. Zwar wurde die Abteilung aufgestockt, ansonsten gestaltete sich die Arbeit aber wie in den ersten Wochen der Pandemie: Anhand eines Fragenkatalogs, in einem ausführlichen Gespräch mit den Infizierten klärte die Behörde, wer dem Virus in den 48 Stunden vor dem positiven Test möglicherweise ausgesetzt war.
Fundamentaler Baustein der Strategie
Die Nachverfolgung von Infektionsketten, das Einhalten der Hygienemaßnahmen und nicht zuletzt die groß angelegte Testkampagne sollten nun sicherstellen, dass man in der Pandemie nicht erneut die Kontrolle verliert. „Wenn ein Baustein nicht mehr funktioniert, bricht die ganze Strategie zusammen“, sagt der französische Virologe Nathan Peiffer-Smadja im Gespräch mit Reporter.lu. Der Experte des « Hôpital Bichat » in Paris beschreibt damit auch, wie die Überforderung der Labore in Frankreich die Regierung zum Umdenken zwang.
„Wenn Menschen vier bis fünf Tage auf ein Testergebnis warten, ist die Kontaktverfolgung sinnlos“, betont Nathan Peiffer-Smadja. In der Zwischenzeit könnten mögliche Kontakte des Erstinfizierten bereits andere Menschen angesteckt haben. Es komme also sehr auf die Schnelligkeit an. Die Unmöglichkeit des Tracing ist demnach auch einer der Gründe, warum Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Mittwochabend einen neuen, wenn auch im Vergleich zum Frühjahr begrenzten Lockdown für das Land ankündigte.
In Luxemburg zeigen sich in den Laboren zwar erste Probleme, aber noch sei die Lage zu handhaben, sagt Jean-Paul Schmit im Interview mit Reporter.lu. Das Warten auf die Testergebnisse sei demnach zurzeit noch weniger ausschlaggebend als die Zeit, die bis zum Anruf der „Santé“ vergeht. Stand heute kann nach Erhalt des Testergebnisses mehr als ein Tag vergehen, bevor die Behörde sich meldet.
Ein kurzer, überraschender Erfolg
Luxemburgs Behörden wurden jedoch nicht nur dieses eine Mal von der Geschwindigkeit der Infektionszunahme überrascht. Als im Juli erneut die Schwelle von 100 Neuinfektionen pro Tag überschritten wurde, befürchtete das Ministerium, Kontakte nicht mehr angemessen nachverfolgen zu können. „Wir sagten immer, dass wir bei 60 bis 80 Neuinfektionen am Tag an unsere Grenzen stoßen“, sagte Jean-Claude Schmit damals im Gespräch mit „Radio 100,7“. Es war ein erstes Eingeständnis, dass man bereits damals nicht mehr Herr der Lage war.
Dass das Tracing in den kommenden Wochen dennoch nicht komplett zusammenbrach, überraschte selbst die Gesundheitsministerin. Während der Debatte über ein neues Covid-Gesetz am 23. Juli erklärte Paulette Lenert, dass die Behörden die Nachverfolgung weiterhin sicherstellen können. „Ich hätte vor zehn Tagen auch nicht daran geglaubt, dass wir das hinkriegen“, sagte die LSAP-Ministerin im Parlament.
Die Arbeiten hinter den Kulissen verliefen allerdings durchaus chaotisch, wie etwa eine Recherche von « Radio 100,7 » zeigte. Man war « mam Kapp am Guidon », räumte Paulette Lenert bereits im Juli ein. Dennoch reichten die Kapazitäten für die unerwartete Sommerwelle aus. Das sei aber vor allem darauf zurückzuführen, dass der Anstieg der Fallzahlen nur von kurzer Dauer war, sagt Jean-Claude Schmit im Rückblick.
Vorbereitungen auf die Herbstwelle
Im Gesundheitsministerium liefen über den Sommer die Vorbereitungen für eine befürchtete Verschlechterung der Lage im Herbst. Erneut war es nun allerdings die Geschwindigkeit der Ausbreitung, die dem Ministerium zu schaffen machte.
Auch dieses Mal sollten künftige Schwierigkeiten durch mehr Personal abgewendet werden. Während im März nur zehn Personen in der Abteilung arbeiten, wurden im Mai weitere 30 Menschen eingestellt. In den Monaten des Lockdowns hat die Militärmusik bereits bei der « Hotline » des Ministeriums ausgeholfen, später sollten die Beamten dann auch für das Contact-Tracing eingespannt werden.
Il est recommandé que toute personne avec un test positif informe elle-même ses contacts à haut risque pour que ces personnes se mettent en auto-quarantaine. »
« Lettre circulaire » an die Ärzteschaft
Mitte September musste die « Inspection sanitaire » aber zusätzlich zur Militärmusik weitere Freiwillige hinzuziehen. Im Vergleich zum März konnte die Behörde ihr Personal somit verzehnfachen. Immerhin 100 Menschen arbeiteten tagtäglich für die « Cellule Contact-Tracing ».
Seit rund einer Woche wird allerdings nicht mehr auf die Militärmusik zurückgegriffen. Schnell musste neues Personal aus anderen Behörden herangezogen und ausgebildet werden. Allerdings reichte auch das nicht aus. Letztlich führte nichts daran vorbei, die Strategie anzupassen. „Eigentlich war der Plan, dass Menschen, die mit Infizierten in Kontakt waren, sich telefonisch bei uns melden sollten“, sagt Jean-Claude Schmit vom Gesundheitsamt.
Verschiebung der Verantwortung
Am 22. Oktober informierte Jean-Claude Schmit die Ärzte in einer „Lettre circulaire“ über die neue Arbeitsweise der „cellule contact tracing“. Das Schreiben, das Reporter.lu vorliegt, liest sich wie eine Kapitulationserklärung. Die Positiv-Getesteten sollen nun Menschen, mit denen sie in Kontakt waren, selbst informieren. Indes informiert die „Santé“ lediglich die unmittelbar Betroffenen und deren Familie sowie mögliche größere Gruppen von Infizierten, sogenannte Cluster.
Bereits zuvor kontaktierte die Behörde Personen, die möglicherweise dem Virus ausgesetzt waren, ausschließlich per E-Mail. Nun sollen diese sich selbst über diesen Weg melden. „Um die Anfragen bestmöglich zu beantworten und personelle Kapazitäten zu schonen, wird die Kommunikation per E-Mail nachdrücklich empfohlen“, heißt es in der « Circulaire ».

Gerade dies sollte jedoch ursprünglich verhindert werden. Am 15. Juli erklärte die Gesundheitsministerin während einer Pressekonferenz, die Regierung spreche sich gegen eine Tracing-App aus, da diese „die Verantwortung auf den einzelnen verschiebt.“ Eben dieses Szenario ist allerdings jetzt – wenn auch ohne App – eingetreten.
Zudem geht durch das Ausfüllen eines Formulars der persönliche Kontakt verloren – und somit auch die nötige Sensibilisierung der Risikokontakte. Dennoch sei die aktuelle Lage „nichts Neues“, sagt Jean-Claude Schmit. Denn bereits bei der ersten Covid-19-Welle im März wurde empfohlen, nicht auf einen Anruf der „Santé“ zu warten. Die Regel war, sich selbst in Quarantäne zu begeben. Die Lage ist dennoch in vielerlei Hinsicht nicht mit dem Frühjahr vergleichbar. Vor allem: Luxemburg befindet sich zurzeit nicht in einem Lockdown und damit ist bisher nicht mit einer Entspannung der Gesamtlage zu rechnen.
Folgenreiche Informationslücken
Die Überforderung in der Abteilung ist allerdings durchaus vergleichbar. „Wir hinken den Testergebnissen zurzeit 24 Stunden hinterher“, erklärte die Leiterin des Contact-Tracing Anne Vergison im Gespräch mit „Radio 100,7“ noch letzte Woche. Da die Gespräche auf ein striktes Minimum reduziert werden, bestehe das Risiko, dass einem verschiedene Informationen entgehen, räumte die Leiterin des Contact-Tracing ein.
Ich schätze, dass wir erst bei etwa 200 bis 250 Infektionen pro Tag wieder normal arbeiten könnten. »
Jean-Claude Schmit, Directeur de la Santé
Diese Informationslücken könnten jedoch schwerwiegende Folgen haben. „Man schätzt, dass ungefähr die Hälfte der Ausbreitung dieser Infektionen eingedämmt werden kann, wenn das Gesundheitsamt arbeitsfähig ist und die Fälle nachverfolgen kann“, sagte die deutsche Virologin Sandra Ciesek im NDR-Podcast « Coronavirus-Update ». Die andere Hälfte könne man durch das eigene Verhalten, etwa die Eingrenzung von persönlichen Kontakten oder das Einhalten von Hygieneregeln beeinflussen.
Laut den Modellrechnungen, auf die sich die Virologin bezieht, erreichen die Behörden allerdings ab einem gewissen Moment einen « Kipppunkt ». Können zwei Drittel der Kontakte nachverfolgt werden, sei die Lage unter Kontrolle. Bei einem Drittel könne man sie noch verlangsamen. Danach gerät sie außer Kontrolle.
Die Weichen stehen auf Lockdown
Um den entgegen zu wirken, versucht das Ministerium nun erneut an die Eigenverantwortung zu appellieren und gleichzeitig weiter personell aufzustocken. Allerdings stellt sich die Frage, ob es dafür nicht bereits zu spät ist. Im Schnitt verzeichnete Luxemburg in der letzten Woche pro Tag etwa 450 Neuinfektionen. „Ich schätze, dass wir erst bei etwa 200 bis 250 Infektionen pro Tag wieder normal arbeiten könnten“, bringt Jean-Claude Schmit die Situation auf den Punkt.
Diese Zahl liegt somit bei weitem höher als noch zum Zeitpunkt der zweiten Welle im Sommer, als die Behörden lediglich 60 bis 80 Fälle täglich bearbeiten konnten. Die neuen Kapazitäten sind auf einen massiven personellen Ausbau zurückzuführen. Um die Kapazitäten zu erhöhen, ist das Amt am Montag in ein neues Gebäude in der Nähe des Flughafens umgezogen. Zudem sollen dem Team künftig Mitarbeiter der „Luxair“ über einen „prêt de main d’oeuvre“ zur Seite stehen.
Wenn ein Baustein nicht mehr funktioniert, bricht die ganze Strategie zusammen. »
Nathan Peiffer-Smadja, Virologe « Hôpital Bichat »
Ob dies allerdings ausreicht, bleibt fraglich. Nathan Peiffer-Smadja schätzt, dass ein Gesundheitsamt bereits bei einer Inzidenz von 100 bis 200 Fällen auf 100.000 Einwohner in Schwierigkeiten geraten kann. Im letzten Wochenrückblick des Gesundheitsministeriums von Mittwoch liegt dieser Wert nun bei 540 Infizierten pro 100.000 Einwohner. „Dann stellt sich die Frage, ob die Nachverfolgung noch sinnvoll ist oder ob man nicht schärfere Maßnahmen beschließen muss“, sagt der Pariser Virologe.
Auch Jean-Claude Schmit bezweifelt, dass man die Lage allein durch zusätzliches Personal langfristig verbessern kann. Neben den Schwierigkeiten, geeignete Arbeitskräfte zu finden, würde sich vor allem die Frage stellen, inwiefern dies sinnvoll sei. „Wenn eine gewisse Anzahl von Menschen in Isolation und das Virus weit verbreitet ist, macht die Nachverfolgung von Kontakten keinen Sinn mehr. Dann geht man in Richtung eines neuen Lockdowns », so der Direktor des Gesundheitsamtes.
Lesen Sie mehr zum Thema


