Wie kam es dazu, dass die USA von der Pandemie so schwer betroffen sind? Der Bestsellerautor Michael Lewis kommt zum Schluss: Es war nicht nur Trump. Scheuklappendenken, fehlender politischer Mut und bürokratische Hürden zeigen Parallelen zu Luxemburg auf.

„This is bullshit“, urteilte George W. Bush über den Pandemieplan der USA. Er hatte gerade das Buch des amerikanischen Historikers John Barry über die „Spanische Grippe“ 1918 gelesen. Der Präsident fragte seine Berater daher 2005: Was ist unsere Strategie im Falle einer neuen Pandemie? Die Antwort: Die Kranken isolieren und schnellstmöglich einen Impfstoff herstellen. George W. Bush hielt nichts davon.

In seinem Sachbuch „Premonition“ (was soviel heißt wie « Vorahnung ») erzählt der Bestseller-Autor Michael Lewis, wie ein neuer Pandemie-Plan für die USA ausgearbeitet wurde. Viele Konzepte, die uns seit nun anderthalb Jahren vertraut sind, entstanden: „Social distancing“, die Modellierung von Infektionen und die sogenannte Schweizer-Käse-Strategie.

Trump als Begleiterkrankung

Wie konnte es passieren, dass in der mächtigsten Nation der Welt bis heute knapp 650.000 Menschen an Covid-19 starben? Das Versagen der USA lag nicht nur an Präsident Donald Trump, der das Coronavirus und dessen Gefahr unterschätzte und herunterspielte. „Trump was a comorbidity“, also eine « Begleiterkrankung » des schlechten Krisenmanagements, zitiert Michael Lewis einen seiner Protagonisten. Als Hauptverantwortliche schält sich dagegen die US-Behörde „Centers for Disease Control and Prevention“ (CDC) heraus. Ein bürokratisches Monster, das lieber abwartete als zu handeln, glaubt man den Darstellungen in „Premonition“.

Als George W. Bush 2005 einen neuen Pandemieplan in Auftrag gab, wandte sich das Weiße Haus bewusst nicht an die CDC, sondern rekrutierte Menschen aus allen Teilen der föderalen Verwaltungen, die sich dadurch auszeichneten, „out of the box“ zu denken. Das passt gut zu Michael Lewis Vorliebe für Charaktere, die gegen den Strom schwimmen und das bemerken, was die vorherrschende Meinung übersieht. Im später verfilmten Bestseller „The Big Short“ waren es etwa die wenigen Fondsmanager, die das Platzen der US-Immobilienblase vorhersahen.

Wie Michael Lewis beschreibt, brachen seine Helden mit der tradierten Überzeugung der Experten, wonach Maßnahmen wie „social distancing“ nicht wirken, sondern nur wirtschaftlichen Schaden anrichten würden. Als ultimativer Beweis der etablierten Meinung galt die Situation der Stadt Philadelphia in der Pandemie von 1918. Dort schlossen die Schulen und die Bars und dennoch hatte die Stadt die höchste Todesrate. Die Wissenschaftler Richard Hatchett und Carter Mecher – zwei Hauptcharaktere in „Premonition“ – zeigten jedoch in einer Studie, dass Städte, die 1918 bereits früh solche Maßnahmen ergriffen, um die Hälfte geringere Todesraten verzeichneten. Die politisch Verantwortlichen in Philadelphia hätten demnach einfach zu spät reagiert.

Schulschließungen als effizienteste Maßnahme

1918 war die erste Maßnahme an vielen Orten, Schulen zu schließen. Das war sowohl in den USA der Fall als etwa auch in Luxemburg. Doch als das Weiße Haus ab 2005 an einer neuen Strategie arbeitete, herrschte der Konsens, dass Schulschließungen unmöglich durchzusetzen seien.

Bei ihren Recherchen stießen Carter Mecher und Richard Hatchett auf Bob Glass, der ein epidemiologisches Modell entworfen hatte. Ursprünglich war es eine Art „Jugend forscht“-Projekt seiner Tochter. Die Modellierung ergab, dass konsequentes „social distancing“ eine Pandemie in Schach halten würde und dabei besonders Schulschließungen eine sehr starke Wirkung haben könnten. Die übergeordnete Erkenntnis aus dem Modell war jedoch, dass es ein Zusammenspiel von wirksamen Maßnahmen brauche. Sie nannten das « Targeted Layered Containment ». Weniger hochtrabend wird diese Strategie inzwischen das Schweizer-Käse-Modell genannt. Die Schwächen einer Maßnahme werden von einer weiteren aufgefangen – wie die Löcher einer Käsescheibe von der nächsten verdeckt werden.

Dass Bob Glass als Forscher einer staatlichen Einrichtung ein wertvolles Modell für eine Pandemie in seiner Freizeit entwarf, passt zur These von Michael Lewis, wonach der Staat weitgehend versagt habe. Die CDC hielt nichts von Modellierungen. Das erinnert an Luxemburg, wo die Covid-19-Taskforce von „Research Luxembourg“ der Regierung ihre Projektionen zu den Infektionen regelrecht aufdrängen musste. Die Behörden allein waren offenbar unfähig, annähernd ähnlich komplexe Berechnungen zu erstellen.

Die „Schweinegrippe“ als überhörter Warnschuss

„Premonition“ ist in diesem Sinne eine tragische Fortsetzung zu Michael Lewis vorigem Werk „The Fifth Risk“. Darin beschreibt der Autor die Gefahren, wenn sich ein Staat nicht für Risiken interessiert, die die gesamte Gesellschaft bedrohen. Das galt im besonderen für die Trump-Regierung. „For the better part of three years, the Trump administration got lucky“, schreibt Michael Lewis in der Einleitung. Mit Sars-CoV-2 tauchte dann genau eine solche Herausforderung für die US-Regierung auf. Und sie scheiterte in vielerlei Hinsicht an dieser Aufgabe.

« Premonition – A Pandemic Story » von Michael Lewis ist im Mai 2021 erschienen.

Doch Trumps Vorgänger Barack Obama scheiterte in dieser Hinsicht nicht weniger, er hatte nur mehr Glück. Im April 2009 tauchte in Mexiko eine Variante des Grippevirus H1N1 auf. Fälle der „Schweinegrippe“ hatten sich längst in den USA ausgebreitet, bevor die Regierung auf die Gefahr aufmerksam wurde. Es gab wenig aussagekräftige Daten, wie gefährlich das Virus war. Erste Schätzungen reichten von einer etwas schlimmeren saisonalen Grippe bis zu einer Pandemie mit einer Million Toten allein in den USA. Carter Mecher riet dem damaligen US-Präsidenten, die Schulen zu schließen, bis Klarheit herrsche. Obama entschied sich dagegen – auf Rat der CDC. Doch Michael Lewis beschreibt, wie seine „Helden“ die „Schweinegrippe“ als Warnschuss sahen, der nicht gehört wurde.

Dabei fallen weitere Parallelen zu Luxemburg ins Auge. Seit Juli 2006 gab es auch hierzulande einen Plan für eine Grippe-Pandemie. Schulschließungen werden darin etwa als wirkungsvolle Maßnahme beschrieben. Doch während andere Länder ihre Planungen für den Ernstfall nach den Erfahrungen der „Schweinegrippe“ anpassten, geschah das in Luxemburg nicht. Eine solide gesetzliche Grundlage im Pandemiefall fehlte beim Ausbruch des Sars-CoV-2. Als Luxemburg im März 2020 in den Lockdown ging, musste die Regierung auf ein Gesetz von 1885 zurückgreifen. Das galt, bis wenige Tage später der „Etat de crise“ verhängt wurde.

Gen-Sequenzierung als Wunderwaffe

Den durchbürokratisierten US-Behörden fehle es nicht nur an politischem Mut, sondern auch am Willen, neue Möglichkeiten zu nutzen, kritisiert Michael Lewis. Ein weiterer „Held“ seiner Erzählung ist Joe DeRisi, Leiter des Biohub in San Francisco. Finanziert vom Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und dessen Frau Priscilla Chan setzte er früh auf Gen-Sequenzierung von Virusproben.

Im April 2020 testete das Biohub 3.000 Einwohner eines Viertels in San Francisco. Doch die Tests hatten nicht nur den Zweck, die Infizierten zu lokalisieren, sondern kleinste Mutationen von Sars-CoV-2 zu entdecken. So könne man die Reise des Virus durch eine Gemeinschaft nachverfolgen, erklärt der Autor von „Premonition“. Das Ergebnis zeigte, dass die Latino-Bevölkerung im Viertel dem Virus sehr viel stärker ausgesetzt war und dass « Superspreader » eine Realität sind.

Bei der Lektüre seines Werkes wird klar, dass Michael Lewis diese Methode für die verkannte Wunderwaffe der Seuchenbekämpfung hält. Die Kontaktverfolgung gründet auf den Aussagen der befragten Menschen. Diese sind aber nicht immer zuverlässig, weil sie entweder Kontakte verschweigen, vergessen oder gar nicht bewusst bemerkt haben. Die Gen-Sequenzierung erlaubt hier Klarheit, und das zu einem geringen Preis.

Wo steckt man sich an?

In Luxemburg kam bei den Debatten über die Covid-Gesetze immer wieder die Frage auf: Wo stecken sich die Menschen an? Sind es die Schulen? Welche Gefahr besteht bei einem Restaurantbesuch? Gesundheitsministerin Paulette Lenert antwortete darauf immer wieder, dass man das so genau nicht wissen könne. Gen-Sequenzierung wurde erst zum Thema, als es um die Überwachung der Virusvarianten ging.

Im Fall des Clusters im CIPA „Um Lauterbann“ führte das Gesundheitsministerium aufgrund der unterschiedlichen aufgetretenen Virusvarianten ebenfalls eine tiefergehende Analyse durch. Der sogenannte Waringo-Bericht machte keinen Versuch, besser zu verstehen, wie das Virus in ein Alters- oder Pflegeheim kommt. Auf Nachfrage von Reporter.lu sagte Paulette Lenert damals, ihre Experten seien der Meinung, dass die Sequenzierung nicht viel bringe.  Die Aussage des Ministeriums könnte ebenso als Beispiel für die Scheuklappenmentalität der Behörden herhalten, wie Michael Lewis sie in Bezug auf die USA beschreibt.

Eine US-zentrierte Erzählung

Der Sinn und Unsinn von Gen-Sequenzierung ist aber auch ein gutes Beispiel für die Schwächen des Buches. Denn diese Methode wurde etwa in Island großflächig eingesetzt. Der Leser erfährt diese Tatsache aber nicht von Michael Lewis. Überhaupt kommt der Rest der Welt in seinem Buch kaum vor – außer mit dem Hinweis, dass Behörden anderer Länder sich nach den USA ausrichten würden.

Doch die kleinen Siege und großen Versäumnisse der USA lassen auch viele Entwicklungen in Luxemburg in einem anderen Licht erscheinen. Bei der Lektüre wird offenkundig, wie notwendig eine detaillierte Aufarbeitung hierzulande wäre. Nur das Interesse der Beteiligten daran hält sich in Grenzen. „Ich bin von Natur aus kein nostalgischer Typ. Ich schaue prinzipiell lieber nach vorne“, sagte Anne Calteux, bis vor kurzem Koordinatorin des Covid-Krisenstabs im Gesundheitsministerium, im Interview mit dem „Télécran“.


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