Wegen Covid-19 ist in manchen Ländern wochenlang der Schulunterricht ausgefallen. Dadurch droht eine weltweite Katastrophe: Millionen von Kindern auf der Welt haben noch immer keine Schule. Die Lernrückstände sind zum Teil enorm – und es sind nicht die einzigen Kosten.

King Norvik Tarroyo lebt mit seinen Eltern und fünf Geschwistern in einem Slumviertel am Seedeich in Manila, der Hauptstadt der Philippinen. Der achtjährige Junge hat seit März 2020 kein Klassenzimmer mehr betreten, weil damals seine Schule als Vorsichtsmaßnahme gegen Covid-19 geschlossen worden war. 27 Monate später ist seine Schule – wie Tausende anderer Schulen im ganzen Land – immer noch geschlossen. Vor einem Jahr bekam er von seinen Lehrern einen Tablet-Computer für den Distanzunterricht. Seine Mutter erzählt jedoch, er benutze ihn nur ein paar Stunden am Tag. Danach, so sagt er, mache er ein Nickerchen oder treibe sich in seinem Wohnviertel herum. Manchmal macht seine Mutter die Hausaufgaben für ihn.

Die Reaktion der Philippinen auf Covid-19 war für die Kinder schrecklich. In den ersten sieben Monaten der Pandemie erhielten die rund 27 Millionen Schüler keinerlei Unterricht. Mehr als ein Jahr lang sollten die Kinder in vielen Teilen des Landes nicht einmal ihre Wohnung verlassen. Seit Anfang 2022 erhielten etwa 80 Prozent der öffentlichen Schulen die Erlaubnis, wieder mit einer Art von eingeschränktem Präsenzunterricht zu beginnen. Aber nicht alle Schulen haben diese Möglichkeit genutzt. Etwa zwei Drittel der Kinder wurden bisher nicht wieder zum Schulbesuch aufgefordert.

Als Covid-19 begann, sich weltweit auszubreiten, war die Einstellung des Schulunterrichts eine vertretbare Vorsichtsmaßnahme. Niemand wusste, wie ansteckend das Virus in den Klassenräumen war, wie schwer die Kinder erkranken konnten, oder wie leicht sie ihre Großeltern zuhause infizieren konnten. Aber die Unterbrechung des Schulunterrichts blieb bestehen, auch nachdem sich plausible Lösungsmöglichkeiten abzeichneten.

Neuere Daten lassen darauf schließen, dass der Schaden größer ist, als man erwarten konnte. Die Schließung der Schulen hat für viele Kinder zur Folge, dass sie nicht mehr richtig lesen lernen. Vor der Pandemie waren 57 Prozent der Zehnjährigen in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Nationaleinkommen nicht imstande, eine einfache Geschichte zu lesen, so die Daten der Weltbank. Sie schätzt nun, dass diese Zahl auf etwa 70 Prozent gestiegen sein dürfte. In Lateinamerika, der vermutlich am stärksten betroffenen Weltregion, könnte der Anteil der Zehnjährigen, die nicht lesen können, von etwa 50 Prozent auf 80 Prozent förmlich explodiert sein.

Ein globales Phänomen

Vielerorts auf der Welt blieben die Schulen viel zu lange geschlossen. In den ersten beiden Jahren der Pandemie haben die Länder ihre öffentlichen Schulen für durchschnittlich 20 Wochen geschlossen, so die UNESCO. Durch „teilweise“ Schließungen – wenn Schulen in einigen Landesteilen oder für bestimmte Altersklassen geschlossen wurden, oder wenn Teilzeitunterricht erteilt wurde – gingen weitere 21 Wochen verloren.

Dabei sind die regionalen Unterschiede gewaltig. Vollständige oder teilweise Schulschließungen dauerten in Europa 29 Wochen und im subsaharischen Afrika 32 Wochen. Die Länder Lateinamerikas verordneten Einschränkungen von durchschnittlich 63 Wochen, und in Südostasien waren es 73 Wochen. Nach Angaben der UNESCO ging etwa 153 Millionen Kindern innerhalb von zwei Jahren mehr als die Hälfte und mehr als 60 Millionen von ihnen etwa drei Viertel des Präsenzunterrichts verloren. Bis Ende Mai gab es für Schüler in 13 Ländern – darunter China, Irak und Russland – immer noch Einschränkungen im Präsenzunterricht. In den Philippinen und Nordkorea blieben die Klassenräume weiterhin mehr oder weniger durchgehend geschlossen.

In den ärmeren Ländern wurden die Schulen länger geschlossen als bei ihren Nachbarn. In Ländern mit weniger leistungsfähigen Schulen blieben diese länger geschlossen als andere Schulen in derselben Region. In Ländern, in denen die Gewerkschaften der Lehrkräfte besonders mächtig sind, wie etwa in Mexiko oder in Teilen der USA, dauerten die Schließungen häufig besonders lange. Diese Gewerkschaften setzten sich besonders stark für Schulschließungen ein, auch nachdem schon klar war, dass die Kinder dadurch geschädigt werden. Lange Schulschließungen gab es außerdem in Ländern, in denen nur wenige Frauen berufstätig sind – vielleicht deswegen, weil die Schulen dann weniger gefordert waren, sich um die Betreuung der Kinder zu kümmern.

In den Philippinen leben viele Kinder bei ihren Großeltern, sagt Bernadette Madrid, eine Expertin für Kinderschutz in Manila. Dadurch seien die Leute eher misstrauisch, wenn die Kinder auf dem Schulhof mit anderen Kindern Kontakt hätten. An Orten mit lokalen Schulen war es schwieriger, die Schulen wieder zu öffnen. In dem stark zentralisierten Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron angeordnet, dass alle außer den älteren Schülern vor dem Ende des Sommersemesters wieder zur Schule gehen sollten. Frankreich war das erste große Land in Europa, das so vorging. In der Folge sahen sich andere Länder veranlasst, diesem Beispiel zu folgen. Im Gegensatz dazu wurden Beschlüsse zur Wiederöffnung in Ländern wie Brasilien auf lokaler Ebene nicht konsequent umgesetzt. In den USA lag zwischen dem ersten und dem letzten Bezirk, der die Schulen wieder öffnete, ein ganzes Jahr.

Wir sind nie besonders gern zur Schule gegangen. Das hat sich nun total geändert. »José Emilio Robles, Schüler

Indien, das ein Fünftel aller Schulkinder der Welt aufweist, hatte unter ungewöhnlich langen Schließungszeiten zu leiden. Rakshit Mamumkar war 13 Jahre alt, als seine Schule nahe Mumbai vor zwei Jahren ihre Türen schloss. Danach wusste er nicht mehr, was er tun und wohin er gehen sollte. Manchmal übten er und sein zehnjähriger Bruder Cricket in dem Backsteinhaus, in dem sie mit ihrer Mutter, einer Haushaltshilfe, lebten. Die meiste Zeit jedoch, sagt er, habe er Fernsehen geschaut oder geschlafen. Rakshits Schule war – mit Ausnahme einiger Wochen Ende 2021 – von März 2020 bis letzten Februar geschlossen. Eine Zeitlang hatte er einen Job als Hilfskraft in einem Waschsalon, für den er Kleider einsammelte und auslieferte. Seine Mutter brauchte das Geld, denn ihr Einkommen hatte sich seit Beginn der Pandemie halbiert und ihre Söhne konnten nicht mehr in der Schule kostenlos essen. Schließlich kratzte sie ihr letztes Geld zusammen, um ein gebrauchtes Smartphone zu kaufen, damit Rakshit weiter lernen konnte. Einen Teil des Geldes musste sie sich sogar bei ihrem Arbeitgeber leihen.

Mit über 50 Wochen leistete sich Mexiko eine der weltweit längsten Schulschließungen. Theoretisch sind seine Schulen nun wieder geöffnet, aber viele Kinder fehlen. Im „Colegio Laureles“ in Chiapas, Mexikos ärmstem Bundesstaat, bemühen sich die Lehrkräfte, Kinder in der Klasse und per Distanzunterricht zu unterrichten. Zehn Monate, nachdem die Schulen in Mexiko wieder geöffnet wurden, ist nur etwa die Hälfte der Schüler zurückgekehrt. Einige von ihnen befinden sich noch in Ländern, in die ihre Familien während der Pandemie ausgewandert sind, wie z.B. Argentinien oder Brasilien. Viele Eltern fürchten sich zu sehr vor einer Infektion, um ihre Kinder wieder in die Schule zu schicken, sagt David Gómez, einer der Schulleiter. Jugendliche, die wieder in ihren Klassen sitzen, sind überglücklich, wieder in der Schule zu sein. „Wir sind nie besonders gern zur Schule gegangen“, sagt der 16-Jährige José Emilio Robles. „Das hat sich nun total geändert.“ Die meisten Schüler meinen, dass sie beim Distanzunterricht nicht viel gelernt hätten. Es wurde erwartet, dass sie dem Lehrpersonal Fotos von ihren Hausaufgaben schicken. Meistens waren diese jedoch zu unscharf, um brauchbar zu sein; manchmal versuchte man auch zu mogeln. Die gleichaltrige Monserrath Gómez berichtet, dass sie versucht habe, für ein Foto im Sportdress zu „posieren“, wenn man einen Nachweis für die Ausführung ihrer Turnübungen verlangt habe.

Alarmierende Ergebnisse

In einer im Mai veröffentlichten Untersuchung befassen sich Analysten der Weltbank, der „Harvard University“ und der „Brookings Institution“ mit 35 Studien zum Lernverlust in 20 überwiegend reichen Ländern. Dabei stellten sie fest, dass der durchschnittliche Lernrückstand in diesen Studien dem Niveau entspricht, das in einem Drittel bis einer Hälfte eines normalen Schuljahres erreicht worden wäre. In England haben Tests zu Beginn des Schuljahres 2021-2022 ergeben, dass Schüler der Grundschule etwa zwei Monate im Rechnen und einen Monat im Lesen zurückgeblieben waren. Ähnliche Untersuchungen in den USA haben gezeigt, dass die Kinder dort zwischen acht und 19 Wochen verloren hatten.

In einigen Ländern waren die Ergebnisse geradezu katastrophal. In Südafrika wurde festgestellt, dass Grundschüler, die nach einer Schulschließung von 22 Wochen getestet wurden, nur etwa ein Viertel des normalen Lernstoffs gelernt hatten. Bei brasilianischen Oberschülern, die fast sechs Monate Präsenzunterricht verpasst hatten, war die Situation ähnlich alarmierend. In Mexiko ergab eine Studie mit 3.000 Kindern, die 48 Wochen lang keinen Präsenzunterricht hatten, dass sie in dieser Zeit nur wenig oder gar nichts gelernt hatten. Gegenwärtig kommen präzise Informationen zum Lernverlust nur aus rund einem Sechstel der überwiegend reichen Länder.

Die Beratungsfirma McKinsey versuchte, diese Lücken durch ungefähre Berechnungen zu schließen. Zu diesem Zweck werden verschiedene Datensätze miteinander kombiniert. Wie viel haben die Schulkinder normalerweise vor der Schulschließung in jedem Land gelernt? Wie lange blieben die Schulen geschlossen? Wie effektiv waren die Bemühungen im Bereich des Distanzunterrichts ganz allgemein?

Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die Schulkinder weltweit etwa acht Monate hinter dem normalen Lernstoff zurückgeblieben sind. Der Schaden dürfte in vielen Ländern mit mittlerem Nationaleinkommen, die zusammen etwa 75 Prozent aller schulpflichtigen Kinder aufweisen, beträchtlich sein. Der Lernverlust in vielen dieser Länder könnte zwischen neun und 15 Monaten betragen. In diesen Ländern blieben die Schulen generell länger geschlossen als in den reichen Ländern, und sie waren vermutlich auch im Bereich des Distanzunterrichts weniger effektiv. Die geschätzten Auswirkungen der Pandemie auf das Bildungswesen in ärmeren Ländern waren nicht ganz so gravierend. Die einleuchtendste Erklärung ist leider die, dass die Schulen in diesen Ländern schon vor der Pandemie so schlecht waren, dass die Kinder durch ihre Schließung nicht so viel verpassten.

Aus Fehlern lernen

Weltweit wurden die Schulkinder stärker im Rechnen als im Lesen benachteiligt. Die Schüler im Grundschulalter sind stärker zurückgefallen als die älteren Altersklassen. Schüler, die schon vor der Pandemie Probleme hatten, wurden durch die Schulschließungen noch weiter abgehängt. Aus allen Studien geht hervor, dass in jedem Land die ärmeren Kinder stärker betroffen waren als die reichen Kinder. In einer Studie aus den USA untersuchte man den Lernfortschritt von Kindern in Schulen, die länger als die Hälfte des Schuljahres 2020-2021 geschlossen waren. Das Ergebnis war, dass Kinder, die an Schulen mit vielen armen Schülern angemeldet waren, in diesem Zeitraum fast doppelt so große Lernverluste hinnehmen mussten wie an Schulen mit überwiegend reichen Schülern.

Um den durch die Schulschließungen entstandenen Schaden zu vermindern, müssen die Länder alle Hindernisse aus dem Weg räumen und den Kindern dabei helfen, ihre Lernrückstände aufzuholen. Ein guter Anfang würde darin bestehen, sie in ihre Klassen zurückzuholen. Aber auch dann reicht ein „business as usual“ nicht aus, sagt Jaime Saavedra von der Weltbank. Kinder, die bei der Rückkehr auf die Schulbank nicht angemessen unterstützt werden, könnten noch weiter zurückfallen. Vor der Pandemie mussten sich die Lehrkräfte durch vollgestopfte Lehrpläne mit viel unwichtigem Lernstoff durcharbeiten. Ihre Aufgabe ist dadurch, dass die Pandemie die Lücke zwischen den besten und den schlechtesten Schülern in jeder Klasse vergrößert hat, noch schwieriger geworden. Schüler, die vor der Pandemie den Unterricht langweilig fanden, sind nun noch weniger motiviert. Viele sind bereits ausgestiegen. Wenn man versuchen will, die Schüler in kürzerer Zeit mit noch mehr Lernstoff zu füttern, dann könnten sie dadurch noch mehr zum Aussteigen veranlasst werden.

Einer Studie von UNICEF zufolge haben sich bereits drei Viertel der Länder mit der Aufholung der Lernrückstände befasst. Etwa 70 Prozent von ihnen haben ihre Lehrpläne entrümpelt. Die Experten berichten, dass die Bemühungen um eine stärkere Berücksichtigung von Rechnen und Lesen im Schulalltag in Indonesien und Südafrika besonders bemerkenswert seien. Die reichen Länder haben häufig Geld in Nachhilfemaßnahmen investiert, was als der geeignetste Weg zur Förderung von bedürftigen Schülern gilt. Das ist zwar nicht billig, dürfte aber auch für ärmere Länder möglich sein. In Bangladesch hatte ein Experiment mit Telefonnachhilfe zur Folge, dass die Alphabetisierung der betreffenden Schüler etwa 50 Prozent schneller erfolgte als bei den nicht daran beteiligten Schülern. Durch ein ähnliches Programm in Nepal konnte die Rechenkompetenz um 30 Prozent gesteigert werden. Dieses Pilotprojekt hat ergeben, dass dadurch die schulische Leistung eines Kindes in einer Größenordnung gesteigert werden kann, die einem ganzen normalen Schuljahr entspricht, und zwar zu Kosten von rund 100 Dollar.

In Botsuana, Indien und Sambia erhalten Schüler Nachhilfe gemäß einem Konzept, das von Pratham, einer indischen NGO, entwickelt wurde. Das Programm „Teaching at the Right Level“ empfiehlt den Lehrkräften, kurze mündliche Tests abzuhalten, um die Schüler in Gruppen einzuteilen, die ihrem Lernniveau und nicht ihrem Alter entsprechen. Diese Gruppen erhalten täglich kurze Unterrichtseinheiten in Rechnen und Lesen. Vor der Pandemie gelang es in Uttar Pradesh, Indiens größtem Bundesstaat, durch ein ähnliches Unterrichtskonzept den Anteil der Schüler, die einen kurzen Text lesen konnten, in nur 50 Tagen von 15 auf 48 Prozent zu steigern.

Die Daten aus einigen reicheren Ländern lassen darauf schließen, dass die Schulkinder in diesen Ländern ihren Rückstand schrittweise aufholen. Obgleich die Grundschulkinder in England im Rechnen etwa zwei Monate zurückliegen, ist das immerhin besser als im Herbst 2020, als der Rückstand noch dreieinhalb Monate betrug. Bis zum vergangenen Herbst hatten die Drittklässler im US-Bundesstaat Ohio zwei Drittel ihres Lernrückstands aufgeholt, der zu Beginn des Schuljahres 2020-2021 festgestellt worden war (damals lagen sie um etwa vier Monate hinter dem Normalzustand zurück).

Die Alarmglocken läuten

Vor der Pandemie hatten die Regierungen vieler Entwicklungsländer eklatante Schwachstellen in ihren Bildungssystemen unbeachtet gelassen. Optimisten glauben, dass sie durch die Pandemie veranlasst werden könnten, nun die Probleme anzugehen. Durch Programme zur Aufholung von Lernrückständen könnten nachhaltige Reformen eingeleitet werden. Noch nie zuvor habe es so gute Rezepte dafür gegeben, wie eine umfassende Verbesserung der Schulbildung funktionieren könnte, sagt Benjamin Piper von der „Bill and Melinda Gates Foundation“.

Doch das ist nur ein mögliches Ergebnis. Die Schulen in mehreren Ländern hätten noch keine festen Pläne für die Aufholung der Rückstände, sagt UNICEF. Weniger als die Hälfte der Regierungen verfolgten rasch entworfene Strategien auf nationaler Ebene. Arme Kinder könnten ihre Lernrückstände wesentlich langsamer aufholen als reiche Kinder. „Die Kosten sind verblüffend, wenn wir sie nicht kontrollieren,“ sagt Noam Angrist, ein Bildungsexperte der Universität Oxford.

Ich befürchte, dass man in 15 Jahren Studien durchführen wird, in denen erheblich niedrigere Einkommen, nachlassende Produktivität und geringerer Wohlstand für Menschen dokumentiert werden, die heute sechs bis 20 Jahre alt sind. »Abhijit Banerjee, Ökonom und Nobelpreisträger

Die Hälfte der Länder hat die Mittel für das Bildungswesen 2020, dem ersten Jahr der Schulschließungen, gekürzt. Der für das Bildungswesen bestimmte Anteil der Entwicklungshilfe ist zurückgegangen. Mehrere arme Länder haben keinen Überblick über die Zahl der Schulrückkehrer. Man muss sich dringend um die Schulabbrecher kümmern, solange noch eine Chance besteht, sie zurückzuholen. „In sechs Monaten könnte es zu spät sein,“ bemerkt Abhijit Banerjee, ein Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger. Jaime Saavedra erklärt, die Schulschließungen hätten „die größte Bildungskrise seit hundert Jahren, und auf jeden Fall seit den Weltkriegen“ ausgelöst. Er ist besorgt darüber, dass zu wenige Länder das Ausmaß der Katastrophe erkannt hätten und dass die tatsächlichen Kosten erst nach Jahren sichtbar würden. „Ich befürchte, dass man in 15 Jahren Studien durchführen wird, in denen erheblich niedrigere Einkommen, nachlassende Produktivität und geringerer Wohlstand für Menschen dokumentiert werden, die heute sechs bis 20 Jahre alt sind,“ sagt er. „Ich sehe keine Gesellschaften, die dieses Problem ernst nehmen.“

Die Lehrkräfte in Chiapas und in ganz Mexiko sind sich darin einig, dass für die Kinder dringend etwas getan werden muss. Sie sind „zwei Jahre“ hinter ihrem planmäßigen Lernniveau zurückgeblieben, sagt Vianney Narvaez, ein Lehrer in Mexiko-City. Ihr Wohlergehen sei wichtiger gewesen als ihre Bildung. Wie Lehrkräfte berichten, nähmen die Grundkompetenzen wie Schreiben und Rechtschreibung ständig ab. Die Schulgebäude seien baufällig. Einige davon seien wegen der langen Schließungen vernachlässigt oder gar beschädigt. Die Eltern seien ersucht worden, Geld für die Reparaturen zu spenden. Mexiko hat keine landesweite Untersuchung veranlasst, die zeigen könnte, welche Lernrückstände die Kinder aufweisen. Nur drei der 32 Bundesstaaten haben größere Erhebungen durchgeführt. Die Regierung hat dieses Schuljahr bis in den Sommer hinein verlängert. In der Tat gibt es keinen sonstigen nationalen Plan und keine neuen Finanzmittel, die es ermöglichen würden, die Schulabbrecher zurückzuholen und mit der Aufholung der Rückstände zu beginnen. „Es ist eine echte Tragödie,“ sagt Marco Fernandez vom Technologischen Institut in Monterrey.

In den Philippinen kann niemand sagen, wann der normale Schulbetrieb wieder aufgenommen wird. Ruby Ana Bernardo, eine Lehrerin in Manila, berichtet, dass die Zahl der Schüler, die an ihrem Online-Unterricht teilnehmen, rückläufig sei. Die Regierung will, dass alle Schulen in dem kommenden Schuljahr Präsenzunterricht anbieten. Am Anfang ist dies aber nur auf Teilzeitbasis vorgesehen.

Die philippinischen Eltern fürchten sich noch immer vor dem Virus und möchten kein unnötiges Aufsehen erregen. Die Schulkrise hat im Wahlkampf um die Präsidentschaft der Philippinen eine bemerkenswert geringe Rolle gespielt. Die Wahl im Mai gewann Ferdinand Marcos, der Sohn eines zwielichtigen Diktators. Bernadette Madrid in Manila ist der Meinung, dass es einigen reichen Schülern gelingen dürfte, ihren durch die Pandemie bedingten Lernrückstand aufzuholen. Für die durchschnittlichen Kinder, so befürchtet sie, werde diese Zeit aber vollends verloren sein.


* Dieser Artikel basiert auf einem Originaltext aus dem „Economist“, den Reporter.lu im Rahmen einer Syndizierungspartnerschaft veröffentlicht.


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From The Economist, translated by Hermann J. Bumb, published under licence. The original article, in English, can be found on www.economist.com