Auswege aus dem Krieg

Wie Frieden in der Ukraine aussehen könnte

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Unter welchen Bedingungen könnte der Krieg in der Ukraine enden? Der Druck zu Friedensgesprächen wächst, auch wenn Russland sich aus Cherson zurückzieht. Für den Westen ist klar: Die Ukraine muss als stabiler Staat aus dem Konflikt hervorgehen.

Russlands Blitzangriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew Anfang des Jahres war ein Fehlschlag. Auch sein anhaltender Artilleriekrieg zur Eroberung der östlichen Region des Donbass ist blutig zum Erliegen gekommen. Es hat einen Teil der gestohlenen Gebiete südlich der Stadt Charkiw verloren und kündigte diese Woche einen Rückzug aus Cherson an, der einzigen Provinzhauptstadt, die es seit seiner Invasion im Februar erobert hatte.

Bei jedem Rückschlag hat Russlands Präsident Wladimir Putin nach neuen Wegen gesucht, um die Ukraine zu drangsalieren. Das Neueste ist ein unerbittliches Bombardement, das darauf abzielt, die Infrastruktur der Ukraine zu zerstören. Den Einwohnern der Hauptstadt wurde gesagt, dass sie mit einer Evakuierung rechnen müssen, wenn das Stromnetz zusammenbricht und die Wasserversorgung unterbrochen wird.

Die Stromausfälle haben den Kampfeswillen der Ukraine nicht geschwächt. Aber sie erinnern daran, dass Putin acht Monate nach seinem völkerrechtswidrigen Überfall weiter nach Wegen sucht, den Einsatz zu erhöhen. Einige befürchten, er könnte einen Damm am Dnjepr sprengen, wie Stalin es 1941 tat, um den Vormarsch seiner Gegner zu verlangsamen.

Der ständig ausgeweitete russische Angriff wirft eine unangenehme Frage auf: Wie lange werden die USA und Europa der Ukraine weiterhin die Milliarden von Dollar an militärischer und wirtschaftlicher Hilfe zukommen lassen, die sie jeden Monat benötigt, um sich gegen Russland zu verteidigen? „So lange es nötig ist“, sagen westliche Führer. Aber viele ihrer Bürger lehnen es ab, einen unbefristeten Konflikt mit Russland zu finanzieren. Zehntausende Menschen gingen am 5. November in Rom auf die Straße und forderten ein Ende der Kämpfe. „Wir wollen keinen Krieg. Keine Waffen, keine Sanktionen. Wo bleibt die Diplomatie?“ war auf einem Plakat zu lesen.

Mögliche Nachkriegsperspektiven

Auch in den USA wurden Fragen aufgeworfen. Manche Demokraten haben kürzlich zu Verhandlungen aufgerufen, diesen Aufruf aber rasch zurückgezogen. Die Gewinne der America-first-Republikaner bei den Zwischenwahlen am 8. November, obwohl geringer als erwartet, erinnern daran, dass sich die US-amerikanische Politik nach den nächsten Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren und damit auch die Politik gegenüber der Ukraine dramatisch ändern könnte.

Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater von Präsident Joe Biden, reiste am 4. November unangemeldet nach Kiew, um „unerschütterliche“ Unterstützung zu versprechen. Aber er forderte die Ukraine auch auf, über künftige Friedensbedingungen nachzudenken. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass er Kontakt zu seinen russischen Amtskollegen aufgenommen hat, um sie vor dem Einsatz von Atomwaffen zu warnen. Am 9. November sagte Präsident Biden, Russland und die Ukraine würden nach der Schlacht um Cherson „ihre Wunden lecken“ und könnten dann zu einem Kompromiss bereit sein. Allerdings betonte er, dass er der Ukraine nicht sagen werde, was sie tun solle.

Insgeheim beginnen westliche und ukrainische Offizielle darüber nachzudenken, wie ein stabiles Ergebnis aussehen könnte. Wird die Ukraine zu einem neuen Finnland, das gezwungen ist, Land an seine Invasoren abzutreten und jahrzehntelang neutral zu bleiben? Oder ein anderes Westdeutschland, dessen nationales Staatsgebiet durch Krieg aufgeteilt und dessen demokratische Hälfte in die NATO aufgenommen wurde? Ein viel diskutiertes Modell ist Israel, ein ständig bedrohtes Land, das sich ohne formelle Bündnisse, aber mit umfangreicher militärischer Hilfe der USA verteidigen konnte.

Westliche Hilfen nicht unendlich

Die genauen Bedingungen einer Verhandlungslösung hängen davon ab, was auf dem Schlachtfeld passiert. Es wird wahrscheinlich noch viel mehr Kämpfe geben, bevor beide Seiten bereit sind, den Krieg zu beenden. Russland und die Ukraine haben nach einer Schätzung jeweils etwa 100.000 gefallene oder verwundete Soldaten verloren,  aber beide hoffen immer noch, sich in eine günstigere Position zu bringen.

Der Rückzug aus Cherson ist eine Demütigung für Putin. Aber dadurch erhalten die russischen Streitkräfte eine leichter zu verteidigende Frontlinie entlang des Dnjepr. Putin zeigt keine Anzeichen dafür, dass er bereit sein könnte, das Handtuch zu werfen. Er hat Hunderttausende weitere Rekruten mobilisiert. Einige wurden mit wenig Ausbildung oder Ausrüstung in den Kampf geschickt, um die Front zu halten; der Rest kann für einen erneuten Angriff im nächsten Jahr verwendet werden.

Die Ukraine hofft ihrerseits, ihre Dynamik beizubehalten. Ihre Armee erhält in diesem Winter Verstärkung in Form von Tausenden von Rekruten, die von Großbritannien und anderen westlichen Ländern ausgebildet wurden. Westliche Waffen treffen weiterhin ein. Am 4. November kündigte das Pentagon ein weiteres Waffenpaket im Wert von 400 Millionen US-Dollar an, darunter 45 generalüberholte T-72b-Panzer und 1.100 Drohnen. Die ersten neuen Flugabwehrbatterien der NASAMS wurden diese Woche eingesetzt.

Die Waffenarsenale des Westens sind nicht unbegrenzt. Europäische Armeen haben ihre Bestände stark abgebaut; sogar die mächtigen USA sorgen sich um ihre eigene Fähigkeit, zukünftige Kriege zu führen. Immerhin ist es Russland, das mit den unmittelbarsten Engpässen konfrontiert zu sein scheint. Es hat die meisten seiner Präzisionsbomben und Raketen aufgebraucht und hat wegen der Sanktionen Probleme, sie zu ersetzen. Es erhält frische Waffen von Staaten wie dem Iran und vielleicht Nordkorea.

Verhärtete Verhandlungsfronten

Wladimir Putin hofft, dass seine Kampagne zur Zerstörung des ukrainischen Stromnetzes das frierende Land zur Unterwerfung zwingen oder es zumindest in einen schwachen, machtlosen Staat verwandeln wird. Allerdings haben vergangene Konflikte gezeigt, dass Luftangriffe auf Zivilisten in Ermangelung einer effektiven Bodenunterstützung selten erfolgreich waren. Fast 90 Prozent der Ukrainer wollen, dass das Land weiterkämpft.

In Russland wollen laut dem Meinungsforschungsinstitut « Levada Center » nur 36 Prozent den Krieg fortsetzen, während 57 Prozent Friedensgespräche befürworten. Gleichzeitig bleibt die Unterstützung für Putin bei 79 Prozent. Die Russen möchten anscheinend, dass der Krieg beendet wird, machen Putin aber nicht dafür verantwortlich, weil sie keine unparteiischen Informationen bekommen. Doch je mehr er versucht, sie in den Krieg hineinzuziehen, desto mehr riskiert er, die Unterstützung der Bevölkerung zu verlieren.

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Vorbild Finnland, Westdeutschland, Israel? Die US-Regierung unter Präsident Joe Biden scheint für die Zukunft der Ukraine unterschiedliche Vorstellungen zu haben. (Foto: White House/Adam Schultz)

Die aktiveren westlichen Unterstützer der Ukraine glauben, dass die Ukraine mit der Zeit stärker und Russland schwächer werden wird. Aber Putin hofft offenbar, dass „General Winter“ ihm irgendwie zu Hilfe kommen wird, wenn schon nicht, indem er den Kampfeswillen der Ukraine schwächt, dann doch, indem er die Bereitschaft des Westens verringert, sie zu unterstützen, während die Heizkosten in Europa in die Höhe schießen.

Der russische Präsident behauptet, dass er zu Verhandlungen bereit sei (unter der Voraussetzung, dass der Westen seinen Diebstahl des ukrainischen Territoriums anerkennen sollte), aber dass die westlichen „Herren“ der Ukraine diese daran gehindert hätten, mit ihm zu sprechen. Die beiden Seiten führten lange Gespräche, nachdem Russland 2014 die Halbinsel Krim und einen Teil des Donbass erobert hatte. Sie sprachen im Frühjahr erneut miteinander, als Russland Kiew belagerte.

Aber die Ukraine hat weitere Verhandlungen abgelehnt, nachdem nach Russlands Rückzug aus Kiew im April umfangreiche Gräueltaten gegen Zivilisten bekannt geworden waren. Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, schlug diese Woche vor, dass die Gespräche wieder aufgenommen werden könnten, aber nur, wenn Russland bereit sei, ukrainisches Land zurückzugeben, Entschädigungen zu zahlen und die Verantwortung für Kriegsverbrechen zu übernehmen.

Gleichzeitig kämpfen und reden

Der Westen bleibt unklar, was seine eigenen Ziele betrifft. Präsident Biden hat manchmal darüber nachgedacht, Putin von der Macht zu verdrängen; bei anderen Gelegenheiten hat er davon gesprochen, „Auswege“ für den russischen Führer zu finden. Am deutlichsten definierte er seine Ziele in einem Gastbeitrag in der « New York Times » im Mai: „eine demokratische, unabhängige, souveräne und wohlhabende Ukraine mit den Mitteln, sich gegen weitere Aggressionen zu wehren und zu verteidigen“. Bemerkenswerterweise ließ er dabei die Frage der Grenzen der Ukraine aus. Westliche Führer sagen, dies sei Sache der Ukraine; sie sind bestrebt, die Verhandlungsposition des Landes zu stärken.

In jüngerer Zeit wurden die Unterstützer der Ukraine jedoch konkreter. In einer Erklärung vom 11. Oktober betonten die Staats- und Regierungschefs der G7-Gruppe der Industrieländer ihre „volle Unterstützung für die Unabhängigkeit, territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine in ihren international anerkannten Grenzen“. Sie forderten Russland auf, sich „vollständig und bedingungslos“ aus allen besetzten Gebieten zurückzuziehen. Unter anderem versprachen sie, Mittel und Wege zu finden, um beschlagnahmte russische Vermögenswerte zur Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine zu verwenden.

Diplomatie beinhaltet per Definition Geben und Nehmen. Man sollte nicht einen weiteren Vertrag von Versailles erwarten. »Samuel Charap, US-Politologe

„Die G7-Erklärung ist im Grunde eine Forderung nach vollständiger russischer Kapitulation, was kein plausibles diplomatisches Ziel darstellt. Diplomatie beinhaltet per Definition Geben und Nehmen. Man sollte nicht einen weiteren Vertrag von Versailles erwarten“, sagt Samuel Charap von der Rand Corporation, einer US-Denkfabrik, und verweist auf die Strafmaßnahmen, die Deutschland am Ende des Ersten Weltkriegs auferlegt wurden. Der Westen, die Ukraine und Russland sollten anfangen, miteinander zu reden, und sei es nur, um die Grundlage für substanziellere Verhandlungen in der Zukunft zu schaffen: „Das gleichzeitige Kämpfen und Reden sollte die Norm sein.“

In diesem Punkt sind viele anderer Meinung. „Halten Sie den Druck aufrecht. Beeilen Sie sich nicht, Linien auf einer Karte zu zeichnen. Es wäre bürokratischer Selbstmord. Irgendjemand wird es neben dem Molotow-Ribbentrop-Pakt auf Twitter posten“, erwidert Dan Fried vom « Atlantic Council », einer anderen Denkfabrik in den USA, und spielt damit auf die Aufteilung Polens durch Nazideutschland und die Sowjetunion im Jahr 1939 an.

Nur wenige westliche Führer stellen den Anspruch der Ukraine infrage, die Gebiete zurückzuerobern, die seit dem Einmarsch Russlands im Februar verloren gegangen sind. Viele würden die Bemühungen zur Rückeroberung der 2014 besetzten Teile des Donbass unterstützen. Bei der Rückeroberung der Krim sind die Meinungen jedoch eher geteilt. Viele befürchten, dass die Aussicht, die Halbinsel zu verlieren, eine gefährliche Eskalation vonseiten Putins auslösen könnte.

Für einige in der Biden-Administration ist der Krieg eine Grundsatzfrage: Ein Gebiet darf niemals gewaltsam erobert werden, daher müssen alle russischen Eroberungen rückgängig gemacht werden. Andere, die an der Fähigkeit der Ukraine zweifeln, noch viel mehr zurückzuerobern, meinen, die Zeit für Diplomatie sei bald gekommen. So oder so, die USA haben es nicht eilig, diplomatische Positionen zu formulieren, die zu Rissen im pro-ukrainischen Lager führen könnten.

Sicherheitsgarantien für Kiew

Eine weitere dringende Sorge ist die Art zukünftiger westlicher Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Sie müssen handfest sein, da Russland wahrscheinlich so lange eine Bedrohung für die Ukraine bleiben wird, wie Putin an der Macht ist, wenn nicht länger. Mehrere mittel- und osteuropäische Länder befürworten eine rasche Aufnahme der Ukraine in die NATO mit der Begründung, dass die Verpflichtung des Bündnisses zur gegenseitigen Verteidigung Russland entschieden abschrecken würde. Trotz all seiner nuklearen Drohungen hat es bisher davon Abstand genommen, NATO-Territorium offen anzugreifen.

Die Biden-Administration bleibt ihrerseits vorsichtig, ihren nuklearen Schirm auf ein Land auszudehnen, das sich in einem Zustand eines latenten oder tatsächlichen Konflikts mit Russland befindet. Während der gesamten Zeit hat Präsident Biden sorgfältig darauf geachtet, das Risiko eines direkten Konflikts zwischen der NATO und Russland zu minimieren, aus Angst, dass dies zu einem „Dritten Weltkrieg“ führen würde. Mehrere NATO-Mitglieder in Westeuropa sind ähnlich skeptisch.

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Ein ukrainisches Flüchtlingskind im polnischen Medyka: Die Meinungen über die Bedingungen einer diplomatischen Lösung des Konflikts gehen noch weit auseinander. (Foto: Imago/NurPhoto)

Daher hat sich die Aufmerksamkeit auf vorläufige oder alternative Regelungen gerichtet. Im September schlugen Anders Fogh Rasmussen, ein ehemaliger Generalsekretär der NATO, und Andriy Yermak, Stabschef von Präsident Selenskyj, einen „Kiew-Sicherheitspakt“ vor, der Sicherheitsunterstützung ohne eine Verpflichtung zur gegenseitigen Verteidigung bieten würde. Einige in der Ukraine betrachteten das als Verrat. Nach dem Vorbild der westlichen Unterstützung für Israel, die Präsident Selenskyj erwähnt hat, würde der Pakt die Streitkräfte der Ukraine stärken – und damit die derzeitige Ad-hoc-Unterstützung in eine systematische, langfristige Verpflichtung verwandeln.

Die Partner der Ukraine würden „jahrzehntelange“ Investitionen in die Rüstungsindustrie des Landes, massive Waffenlieferungen, Ausbildung, gemeinsame Militärübungen und nachrichtendienstliche Unterstützung versprechen. Der Pakt würde weder die Zustimmung Russlands noch die Neutralität der Ukraine erfordern. Er würde eine NATO-Mitgliedschaft nicht ausschließen. Unter bestimmten Umständen könnte es eine militärische Intervention geben, um der Ukraine zu helfen. Im Falle eines Angriffs würden die Unterzeichner „alle Elemente  ihrer nationalen und kollektiven Macht einsetzen und geeignete Maßnahmen ergreifen – die diplomatische, wirtschaftliche und militärische Mittel umfassen können“.  Eine größere Gruppe von Ländern, einschließlich asiatischer Verbündeter, würde eine solche militärische Hilfe mit Sanktionen gegen Russland verstärken, einschließlich Bestimmungen zum „Aussetzen“ aller derzeitigen Strafmaßnahmen, die im Rahmen eines Abkommens aufgehoben werden könnten.

Doch selbst dies könnte für das Team Biden zu ehrgeizig sein. Manche fragen zum Beispiel, welche Verpflichtungen die Ukraine eingehen würde, etwa in Bezug auf Reformen zur Stärkung der Demokratie oder zur Korruptionsbekämpfung. Der Vergleich mit Israel ist unzutreffend. Unter anderem ist Israel eine Atommacht und besetzt arabisches Land. Für Mykola Bielieskov vom « National Institute for Strategic Studies », einer Denkfabrik in Kiew, geht es beim israelischen Modell „nicht nur darum, unsere externen Partner zu mobilisieren; es geht auch darum, den Menschen zu erklären, was es bedeutet, Tür an Tür mit einem verrückten Nachbarn zu leben, mit existenziellen Bedrohungen.“

Putin spielt immer noch auf Zeit

Unabhängig von dem diplomatischen Modell hat Russlands Angriff bewiesen, dass der Westen der Ukraine helfen muss, ein voll integriertes und mehrschichtiges Luftverteidigungssystem aufzubauen, das Kampfflugzeuge, Boden-Luft-Raketensysteme und schultergestützte Waffen kombiniert. Momentan kommen Waffen nur tröpfchenweise ins Land und können oft keine Daten austauschen. Es wird auch befürchtet, dass der Ukraine bestimmte Arten von Flugabwehrmunition ausgehen. In diesem Fall könnte Russland viel mehr Luftstreitkräfte zur Unterstützung der Bodentruppen einsetzen.

Die « Mix-and-Match-Waffen » der Ukraine – ein „Mr. Potato Head“-Arsenal, wie manche es nennen – verursachen noch andere Probleme. Zum Beispiel gibt es nicht weniger als 14 verschiedene Arten von Artilleriegeschützen, wobei eine durchschnittliche Brigade vier verschiedene Arten verwendet. „Das ist ein logistischer Albtraum für sie, besonders wenn wir über Munition sprechen“, sagt Nick Reynolds von « Rusi », einer britischen Denkfabrik. Einige der Waffen nutzen sich stark ab, und die europäische Rüstungsindustrie, die durch Jahrzehnte niedriger Investitionen geschwächt ist, ist schlecht aufgestellt, um Ersatzteile herzustellen. „Was die Verfügbarkeit dieser Unterstützung angeht, so blinken rote Warnlampen“, fügt Nick Reynolds hinzu.

Wir sind jetzt bereit für einen Frieden, einen fairen und gerechten Frieden. Die Formel dafür haben wir viele Male erklärt. »Wolodymyr Selenskyj

Wie lange der Krieg dauert, hängt hauptsächlich von Putin ab. Er steckt in der Ukraine und zu Hause in der Klemme. Moderate Technokraten sind besorgt über die Belastungen der Wirtschaft; „Nationalpatrioten“ wie Jewgeni Prigoschin, der die Wagner-Söldnertruppe befehligt, haben zur Entlassung angeblich unzuverlässiger Generäle aufgerufen.

Eine Pause, um Diplomatie zu simulieren, mag Putin eine Zeitlang recht sein – insbesondere, wenn es ihm erlaubt, einige territoriale Eroberungen zu konsolidieren. Das könnte seine jüngste Mäßigung der nuklearen Rhetorik und seine plötzliche Darstellung der Ukrainer als Opfer westlicher Aggression erklären. „Der Westen wirft die Ukrainer in einen Schmelzofen“; Russland hingegen „hat das ukrainische Volk immer mit Respekt behandelt“, erklärte Putin am 4. November. (Seine Propagandisten und Beamten sprechen jedoch immer noch von einer „Entsatanisierung“ der Ukraine.) Diese Änderung passt zu einer anderen von Putins Rollen, nämlich als Anführer einer globalen Bewegung zur Abschaffung der westlichen Vorherrschaft.

Mit all dem versucht Putin, vor allem im Globalen Süden, Unentschlossene zu umwerben. Er möchte auch Freunde wie China und Indien beruhigen, die ihre Missbilligung seiner nuklearen Rücksichtslosigkeit deutlich gemacht haben. Putin ist aber vor allem daran interessiert, einen bestimmten Zuhörer aus der westlichen Welt zu erreichen: Donald Trump, dessen Verbündete im Kongress die Hilfe für die Ukraine infrage stellen und der bald seine erneute Kandidatur für das Präsidentenamt ankündigen könnte.

Bittersüße politische Aussichten

Trotz all seiner Rückschläge hat Putin noch nicht alle Möglichkeiten erschöpft, die Ukraine zu verfolgen und zu versuchen, den Westen zu spalten. Militärisch könnte er seine Luftwaffe verstärkt einsetzen und mehr Truppen mobilisieren. In der verdeckten „Grauzone“ könnte er unterseeische Gaspipelines und Internetverbindungen zum Westen sabotieren, größere Cyberangriffe durchführen, Kommunikationssatelliten stören und Desinformationskampagnen verstärken. Er könnte auch Schiffe mit Getreide aus der Ukraine versenken. Schließlich könnte er taktische Nuklearwaffen einsetzen. All dies hätte jedoch einen hohen Preis: Es würde Russland noch mehr zu einem Paria machen, Putin zu Hause schwächen und möglicherweise harte Vergeltungsmaßnahmen auslösen.

Präsident Selenskyj in Kiew: Die Ukraine verzeichnet auf dem Schlachtfeld weiter Erfolge. Bei Verhandlungen müsste sie aber schmerzhafte Zugeständnisse machen. (Foto: President of Ukraine/Flickr.com)

Für Putin steht mehr auf dem Spiel als für den Westen. Aber am meisten betroffen sind die Ukrainer, von denen viele der bloßen Idee von Gesprächen mit Russland misstrauen und einen militärischen Sieg als ihre einzige Option ansehen – auch wenn es Jahre dauern sollte. Je mehr Land sie zurückgewinnen kann, glaubt die Ukraine, desto größer sind die Chancen, Putin loszuwerden. Doch die gleiche Aussicht alarmiert viele im Westen: Eine Niederlage der russischen Armee könnte Putin dazu veranlassen, seine nukleare Drohung wahrzumachen. Das ist einer der Gründe, warum das Team Biden schon seit Langem nicht mehr davon spricht, der Ukraine zum „Sieg“ zu verhelfen.

Wie es oft mit Israel geschehen ist, könnten die USA irgendwann versuchen, die Ambitionen der Ukraine einzuschränken. Das muss nicht offen geschehen; die US-Regierung kann die Waffen, die die Ukraine braucht, einfach zurückhalten, wie sie es teilweise bereits jetzt tut. Sie weigert sich, westliche Flugzeuge, Patriot-Luftverteidigungsraketen und ATACMS-Angriffsraketen mit größerer Reichweite bereitzustellen, aus Angst, dass sie Russland zum Einsatz von Atomwaffen veranlassen könnten.

All dies erklärt, warum einige Ukrainer eine bittersüße Botschaft verbreitet haben, die 1940 am Ende des „Winterkriegs“ zwischen der Sowjetunion und Finnland vom finnischen Oberbefehlshaber Carl Gustaf Mannerheim an die finnischen Truppen übermittelt wurde. Die zahlenmäßig weit unterlegenen Finnen hätten den sowjetischen Streitkräften schwere Verluste zugefügt, mussten aber dennoch Gebiete abtreten, weil die Hilfe ihrer Freunde versiegt sei, schrieb Mannerheim und endete mit den Worten: „Wir sind uns stolz der historischen Pflicht bewusst, die wir weiterhin erfüllen werden: die Verteidigung dieser westlichen Zivilisation, die seit Jahrhunderten unser Erbe ist, aber wir wissen auch, dass wir alles, was wir dem Westen geschuldet haben, bis zum letzten Cent zurückgezahlt haben.“

Das Schicksal der Ukraine hängt nicht nur von der Tapferkeit ihrer Soldaten oder der Widerstandskraft ihres Volkes ab, sondern auch von externen Faktoren, die sie nicht kontrollieren kann: den unergründlichen Plänen des despotischen Herrschers Russlands und der Standhaftigkeit ihrer Freunde. Die Vorteile des Krieges für den Westen sind bereits klar. Russland wurde enorm geschwächt, wodurch Europas Flanke viel leichter zu verteidigen ist. Für die Ukraine, die entsetzliche Verluste erlitten hat, sieht die Zukunft wesentlich ungewisser aus.


* Dieser Artikel basiert auf einem Originaltext aus dem „Economist“, den Reporter.lu im Rahmen einer Syndizierungspartnerschaft veröffentlicht.


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