Der OGBL lässt die Verhandlungen platzen und begibt sich damit ins Abseits. Die DP drückt dem Sozialdialog ihren Stempel auf und bestätigt ihre Führungsrolle in der Koalition. Die gescheiterte Tripartite lässt einige Schlüsse über die politischen Kräfteverhältnisse im Land zu.

Eine « Lüge » nannte Nora Back die Nachricht, die am Rande der Tripartite-Verhandlungen schnell die Runde machte. Der Regierung warf die OGBL-Präsidentin nebenbei noch « Wortbruch » gegenüber den Gewerkschaften und den Wählerinnen und Wählern vor. Allein deshalb könne man die Einigung zwischen den Sozialpartnern nicht mittragen, so die Erklärung. Premierminister Xavier Bettel (DP) bedauerte wenig später die unverantwortliche Blockadehaltung des OGBL – und unterzeichnete am Donnerstagnachmittag demonstrativ mit Vertretern von Arbeitgebern und den beiden anderen Gewerkschaften CGFP und LCGB ein « Solidaritéitspak » getauftes Abkommen.

Der Lügenvorwurf des OGBL bezog sich dabei auf eine brisante Indiskretion der Verhandlungspartner: Der OGBL habe während der Diskussionen gefordert, dass die voraussichtlich dieses Jahr anstehende zweite Indextranche für Jahreseinkommen bis zu 160.000 Euro kompensiert werden müsse, berichtete « RTL » vorab aus den Kulissen der Verhandlungen. Im Klartext: Selbst Bürgerinnen und Bürger, die weit mehr als 10.000 Euro brutto im Monat verdienen, sollten in den Augen der Gewerkschaft für die auf das kommende Jahr verschobene Indexanpassung finanziell entschädigt werden.

Obwohl sie ihn zunächst als infame Unterstellung brandmarkte, bestätigte Nora Back am Donnerstag auf einer Pressekonferenz den Kern des Vorwurfs. Die finanziellen Kompensierungen der verschobenen Indextranche sollten für Einkommen von « bis zu » 160.000 Euro gelten, erklärte die OGBL-Präsidentin ihre anfängliche Verhandlungsposition. Sprich: Mit einem Jahresgehalt von 160.000 Euro würde man keine Ausgleichszahlungen mehr erhalten – darunter jedoch schon.

Die 160.000-Euro-Frage

Auch wenn der OGBL in anderen Punkten konsistenter argumentierte und der Betrag der 160.000 Euro wohl nicht zufällig aus den Verhandlungen geleakt wurde, trifft die Episode die Gewerkschaft ins Mark. Denn sie legte nicht nur die amateurhafte Kommunikation, sondern auch ein massives Glaubwürdigkeitsproblem der größten Arbeitnehmerorganisation des Landes offen. In der Öffentlichkeit verfestigte sich nämlich schnell der Eindruck, wonach jene Gewerkschaft, die sich gerne als Verteidigerin der kleinen Leute inszeniert, Lobbying für Besserverdiener macht – und genau an dieser Stelle die Verhandlungen platzen ließ.

Ausgerechnet eine DP-geführte Regierung kann sich fortan als politische Kraft inszenieren, die ein besseres Gespür für soziale Gerechtigkeit hat als die größte Gewerkschaft des Landes. »

Dabei heißt es aus diversen Verhandlungskreisen, dass die Diskussionen zwischen den Sozialpartnern zunächst durchaus konstruktiv verliefen. Die Vorschläge, einschließlich der 160.000-Euro-Frage, wurden denn auch nicht vom OGBL allein, sondern von allen Gewerkschaften gemeinsam gemacht. Schnell zeigte sich jedoch, dass der OGBL offenbar eine völlig andere Agenda verfolgte als die restlichen Verhandlungspartner. Nora Back behauptet zwar, dass Regierung und Patronat die Tripartite von Anfang an zur « Index-Tripartite » machten. Schließlich war es aber die OGBL-Delegation, die alle anderen Inhalte der Gespräche an der ideologischen Ablehnung jeglicher « Index-Manipulation » scheitern – und sich nachher in den eigenen Reihen dafür feiern – ließ.

Historisches « Solidaritéitspak » mit eingeschränktem Zuspruch der Gewerkschaften: Premier Xavier Bettel am Donnerstag im Parlament. (Foto: Mike Zenari)

Ideologisch ist die Haltung des OGBL dabei schon allein deshalb, weil es der Gewerkschaft offenbar nicht vorrangig um die Förderung der Kaufkraft der Menschen, sondern um die Unantastbarkeit des Index an sich geht. Das Angebot der Regierung sah nämlich vor, dass die in diesem Jahr entfallene Indextranche ohnehin nicht gestrichen, sondern auf April 2023 verlegt werden soll. Zudem sollen Geringverdiener per Steuerkredite und andere Beihilfen Kaufkraftverluste kompensieren können.

Dabei wird offensichtlich: Hätte sich der OGBL nicht auf die Index-Schlacht versteift, hätte er in den Verhandlungen sicher noch höhere Hilfen für Gering- und Mittelverdiener herausschlagen können – wenn es ihm denn darum ginge. Denn bei der Höhe und der sozialen Selektivität des Kaufkraftausgleichs lässt sich das « Solidaritéitspak » durchaus mit guten Argumenten kritisieren.

Stattdessen hielt die OGBL-Delegation auch hier am Index-Prinzip fest, wonach die Kaufkraft nicht nach allzu sozialen Kriterien, sondern auch für Bezieher von hohen Gehältern – Stichwort: 160.000 Euro pro Jahr – ausgeglichen werden soll. Die Quintessenz der gescheiterten Tripartite lautet also: Ausgerechnet eine DP-geführte Regierung kann sich fortan – in diesem Punkt nicht ganz zu Unrecht – als politische Kraft inszenieren, die ein besseres Gespür für soziale Gerechtigkeit hat als die größte Gewerkschaft des Landes.

Die schwindende Gewerkschaftsmacht

Aus der gescheiterten Tripartite lassen sich aber noch weitere politische Lehren ziehen. Dazu gehört, dass der OGBL in der Vergangenheit schon mal strategisch besser aufgestellt war. Früher wurde er gefürchtet, weil er Vetos nur androhte, um am Ende oft maximale Zugeständnisse herausschlagen – oder notfalls mit seinen Zehntausenden Mitgliedern Wahlen beeinflussen zu können. Heute steht der Gewerkschaftsbund aber am Ende der Verhandlungen brüskiert und mit leeren Händen da. Zudem haben die Verantwortlichen dem für sie vernichtenden Eindruck einer Gewerkschaft, die maßlose bis unsoziale Forderungen stellt, nicht viel entgegenzusetzen. Daran kann auch die kraftvoll wirkende « Lügen »- und « Wortbruch »-Rhetorik der OGBL-Präsidentin nichts ändern.

Gewerkschaften sind keine wohltätigen Vereine, die sich selbstlos für die Belange der Schwächsten in unserer Gesellschaft stark machen. Sie sind schlicht Verbände, die sich für die Interessen ihrer Mitglieder einsetzen. »

Das Auftreten des OGBL dokumentiert aber eine Entwicklung, die noch viel weiter reicht. Die altgedienten Gewerkschaften, denen nicht nur in Luxemburg stetig die aktiven Mitglieder abhanden kommen, scheinen sich immer mehr von der politischen und sozialen Wirklichkeit entfernt zu haben. Mit dem Anspruch, sozialstaatliche Errungenschaften um jeden Preis zu bewahren, blenden sie mitunter konkrete, realpolitisch erzielbare Fortschritte aus. Das Festhalten an ihrer reinen ideologischen Lehre scheint manchen von ihnen wichtiger zu sein als greifbare Verbesserungen für jene Menschen zu erreichen, die im harten politischen Spiel eigentlich auf sie angewiesen wären.

« Lügen », « Wortbruch »: OGBL-Präsidentin Nora Back rechtfertigte sich mit derben Worten für das Platzen der Tripartite-Verhandlungen. (Foto: Mike Zenari)

Der Index ist dafür ein Paradebeispiel. Jegliches Antasten des Prinzips der Lohnindexierung wird aus Sicht des OGBL als « rote Linie » und Angriff auf den sozialen Frieden bezeichnet. Dahinter verbirgt sich bei genauerem Hinsehen aber nicht nur Ideologie, sondern auch eine sehr pragmatische Erkenntnis. Gewerkschaften scheinen nämlich immer weniger in der Lage zu sein, in Kollektivvertragsverhandlungen bahnbrechende Lohnsteigerungen zu erzielen. In kleineren Betrieben sind sie eh außen vor. In diesem Sinn ist der Index tatsächlich das ultimative Mittel, um das eigene Image des Garanten von Lohnfortschritt und Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeitnehmer aufrechtzuerhalten.

Dabei ist die Verhandlungsweise des OGBL nur die jüngste, flagranteste Bestätigung dafür, was eine Gewerkschaft überhaupt ist. Bei dieser Tripartite wurde deutlich: Gewerkschaften sind keine wohltätigen Vereine, die sich selbstlos für die Belange der Schwächsten in unserer Gesellschaft stark machen. Sie sind schlicht Verbände, die sich für die Interessen ihrer Mitglieder einsetzen, streng hierarchisch organisiert sind und in ihrer Funktions- und Argumentationsweise immer mehr aus der Zeit fallen.

Auch der OGBL ist eine Vereinigung, die sich zuerst und vor allem für die Interessen ihrer Mitglieder einsetzt – die übrigens mittlerweile noch knapp 15 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ausmachen. Und unter diesen Mitgliedern sind sowohl Mindestlohnbezieher und Angehörige der Mittelschicht als auch Arbeitnehmer, etwa hohe Staatsbeamte des « Syndikat Erzéihung a Wëssenschaft am OGBL » (SEW), die in manchen Fällen am Ende des Jahres durchaus ein Bruttoeinkommen von « bis zu » 160.000 Euro anhäufen können. Wie die letzte Tripartite nur allzu deutlich machte, wird es für einen syndikalistischen Koloss wie den OGBL immer schwerer, all diese Interessen unter einen Hut zu bringen und sie dann noch in eine ebenso glaubwürdige wie effektive Verhandlungsstrategie zu übersetzen.

Die Liberalisierung des Sozialdialogs

Allerdings wäre es dann doch zu einfach, das Scheitern der Verhandlungen allein am OGBL festzumachen. Zur Wahrheit gehört nämlich auch, dass auf der anderen Seite des Verhandlungstisches deutlich geschlossenere und pragmatischere Partner saßen. Die Verhandlungsstrategie des Patronats war realistischer als jene der Gewerkschaften. Der Unternehmerverband UEL hatte anfangs das komplette Aussetzen von zwei Indextranchen gefordert und gab sich am Ende mit einer zeitlichen Verschiebung zufrieden.

Hinzu kommen gezielte Hilfen und Subventionen für jene Betriebe, die am meisten unter dem Anstieg der Energiepreise leiden dürften. Das ist die nüchterne Folge einer Position, die zwar im Kern ebenso ideologisch geprägt ist wie jene des OGBL (wenn es nach der UEL geht, gehört der Index abgeschafft), die aber ein pragmatisches Ziel als Resultat der Tripartite ohne Gesichtsverlust in den eigenen Reihen und ohne großes Lamentieren akzeptieren kann.

Das Abschlussdokument dieser Tripartite liest sich wie eine Verschriftlichung der Machtverhältnisse der blau-rot-grünen Koalition: Grundsätzlich liberal, mit sozialem Gewissen und bröckelndem grünem Anstrich. »

Dass die Forderungen der Arbeitgeberseite in den Augen der Regierung weitaus weniger kontrovers waren, verdeutlicht zudem die Führungsrolle des Staatsministeriums bei den Verhandlungen. Die DP musste sich von allen beteiligten Akteuren am wenigsten verrenken, um eine Einigung zu erzielen. Das liegt einerseits daran, dass die Premierpartei in der Regierung generell programmatisch am flexibelsten agiert. Die Bettel’sche Variante des Luxemburger Liberalismus ist nicht ohne Grund so realpolitisch und auf die Person des Premiers ausgerichtet, dass ihr inhaltliche Kontroversen kaum etwas anhaben können.

Pragmatisch, mit Gehör bei der Regierung: Michèle Detaille (Fedil) und Michel Reckinger (UEL), auf dem Weg zur letzten Verhandlungsrunde. (Foto: Mike Zenari)

Doch auch in der Restsubstanz lässt sich eine liberale Handschrift erkennen. Die DP ist jene Partei, so die von Xavier Bettel auch im Parlament betonte politische Botschaft, die die Sorgen der Unternehmen versteht, ohne die Existenzängste jener Bevölkerungsteile zu ignorieren, die von wirtschaftlichen Krisen am stärksten betroffen sind. Dass der Premier im Parlament in Abgrenzung zum OGBL genüsslich betonte, dass Besserverdiener keinen Ausgleich ihrer Kaufkraftverluste benötigen, war nicht nur ein Seitenhieb auf den OGBL. Es war auch der Inbegriff des mitfühlenden, man könnte auch sagen, gönnerhaften (Sozial-)Liberalismus der heutigen DP.

Dagegen beschränkte sich die LSAP offenbar auf ihre bewährte, seit bald 20 Jahren ununterbrochen einstudierte Regierungsrolle als diskret agierendes soziales Korrektiv. Wie schon bei bisherigen blau-rot-grünen Steuerreformen setzt die Koalition beim Ausgleich der hinausgezögerten Indextranchen auf Steuerkredite und punktuelle, sozial selektive Hilfen.

Die Grünen sind hingegen wieder einmal der klare Verlierer der koalitionsinternen Verhandlungen – zumindest, wenn man die Ergebnisse nach ihrer ökologischen Kernprogrammatik bewertet. Ausgerechnet eine grüne Partei trägt einen Benzin- und Dieselpreisrabatt mit – und das ohne jegliche Gewissensbisse, einen Hauch Selbstkritik oder öffentliche Einwände. Bezeichnend ist auch, dass der Klimaschutz in dem Maßnahmenpaket der Regierung noch nicht einmal eine Nebenrolle einnimmt.

Finanzen und andere offene Fragen

Das Abschlussdokument liest sich demnach wie eine Verschriftlichung der Machtverhältnisse der blau-rot-grünen Koalition: Grundsätzlich liberal, mit sozialem Gewissen und bröckelndem grünem Anstrich. Auffällig ist aber auch die finanzpolitische Perspektive, die in grenzenloser Kontinuität zu den Ausgaben für die Bewältigung der Pandemie steht. Budgetäre Spielräume sind zwar im internationalen Vergleich in Luxemburg immer noch vorhanden. Doch nicht nur klimapolitisch, sondern auch finanziell ist das « Solidaritéitspak » keine allzu frohe Botschaft für kommende Generationen.

Geradezu skandalös mutet zudem die Vorgehensweise des Parlaments an. Mit breiter Mehrheit und hochtrabendem Konsenspathos (die CSV stimmte für eine entsprechende Motion) stellten die Abgeordneten der Exekutive beim Tripartite-Abkommen quasi einen Blankoscheck aus – wohlgemerkt ohne zu diesem Zeitpunkt die technischen Details und genauen Zahlen der zwischen der Regierung, den Arbeitgebern, der CGFP und dem LCGB verabredeten Maßnahmen zu kennen.

Nicht auszuschließen ist, dass die Sozialpartner sich bald schon wieder an einen Tisch setzen müssen, um über rote Linien, Überkompensierungen und womöglich noch historischere Maßnahmen zu verhandeln. »

Eine weitere Lehre dieser Tage ist demnach, dass man sich mittlerweile wohl an ungeahnte Krisenlagen, die schier unbegrenzten Ausmaße von deren Bewältigung und entsprechend dramatische politische Rhetorik gewöhnen muss. Luxemburg habe in der Pandemie bewiesen, dass es zu Solidarität mit jenen bereit ist, die hilfsbedürftig sind, sagte der Premier am Donnerstag im Parlament. Auch in dieser Krise habe die Solidarität ihren Preis, so Xavier Bettel weiter. Nur, dass « diese Krise » aus heutiger Sicht ähnlich unberechenbar scheint wie die – übrigens noch nicht wirklich gemeisterte – Herausforderung des Coronavirus.

Der voraussichtliche Preis des « historischen Maßnahmenpakets » (Bettel) liegt übrigens bei rund 830 Millionen Euro. Fraglich ist aber nicht nur, ob die Summe vertretbar ist und die verschiedenen Maßnahmen so wirken, wie sich die Regierung es erhofft. Vielmehr ist völlig offen, wie lange sie ausreichen werden. Denn der Ukrainekrieg ist längst nicht vorbei und die weltwirtschaftlichen Folgen des Konflikts sind alles andere als absehbar. Nicht auszuschließen ist demnach, dass die Sozialpartner (inklusive des abtrünnigen OGBL) sich bald schon wieder an einen Tisch setzen müssen, um über rote Linien, Überkompensierungen und womöglich noch historischere Maßnahmen zu verhandeln.