Selten hatten Wissenschaftler einen so großen Einfluss auf die Politik wie in der aktuellen Krise. Sie liefern wertvolle Daten und Berechnungen, die die Politik in ihren Entscheidungen unterstützen sollen. In Luxemburg ist diese Beziehung jedoch noch ausbaufähig. Eine Analyse.
„Auswendig weiß ich es jetzt nicht, aber es liegt unter eins“, sagte Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) in einem Interview mit « RTL Radio ». Die Frage bezog sich auf die Reproduktionszahl des Virus, die angibt, wie viele Menschen von einem Infizierten angesteckt werden. Ende April sagte der Direktor der „Santé“, Dr. Jean-Claude Schmit, beim gleichen Sender, dass die Zahl vor wenigen Tagen bei 0,6 gelegen habe – genau wisse er es aber auch nicht.
Dies sind nur zwei Beispiele für den suboptimalen Umgang der Politik mit fundamentalen wissenschaftlichen Daten. Es handelt sich nicht nur um einen Lapsus, nach dem Motto: Politiker und Behördenleiter können ja nicht alles wissen. Die Reproduktionszahl ist ein, wenn nicht sogar der wichtigste Indikator für die Analyse der weiteren Entwicklung der Sars-CoV-2-Pandemie. Doch es ist bei weitem nicht der einzige Hinweis darauf, dass Luxemburgs Krisenbewältigung nicht immer nur von wissenschaftlichen Fakten geleitet wird.
Pi-Mal-Daumen-Politik
Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick ins Ausland: Wie wichtig der Einfluss dieser Reproduktionszahl ist, illustrierte etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel während einer Pressekonferenz Ende April. „Schon wenn wir annehmen, dass jeder 1,1 Menschen ansteckt, wären wir im Oktober wieder an der Leistungsgrenze unseres Gesundheitssystems mit den angenommenen Intensivbetten angelangt“, so die deutsche Regierungschefin. Bei einem Wert von 1,2 wäre das in Deutschland bereits im Juli der Fall.
In Luxemburg konnten die politisch Verantwortlichen diesen wichtigen Wert bisher nicht so nachvollziehbar erklären. Mehr noch: Sie kannten die Werte offenbar nicht und selbst die Einschätzung, die Zahl liege unter eins, erweist sich heute als falsch. Während einer Pressekonferenz veröffentlichten die Wissenschaftler der Covid-19-Task-Force erste Berechnungen, die zeigen, dass die Reproduktionszahl bis Donnerstag stetig über eins lag.
Reproduktionszahl R0 und Rt
Die Basis Reproduktionszahl (R0) beschreibt die durchschnittliche Zahl an Menschen, die von einem Infizierten angesteckt werden, wenn keine Gegenmaßnahmen getroffen werden. Bei Sars-CoV-2 nehmen Forscher an, dass der Wert zwischen 2,0 und 2,5 liegt.
Durch eine Ausgangsperre, Hygienemaßnahmen oder steigende Immunität kann sich das Virus schlechter verbreiten – eine Person steckt weniger Menschen an. Dadurch nimmt die aktuelle Reproduktionszahl (Rt) ab. Fällt diese Zahl unter eins, infizieren sich immer weniger Menschen. Bei einer starken Reduktion kann das Virus sogar vollständig eingedämmt werden. In Wuhan konnte durch die strenge Ausgangssperre der Wert auf unter 0,5 gedrückt werden. In Luxemburg liegt er zurzeit bei 0,995.
Inzwischen hat das Ministerium neue Berechnungen der Task-Force veröffentlicht. Demnach soll sich die Reproduktionszahl seit Mitte April zwischen 0,997 und 1,045 bewegt haben. Dies bedeutet, dass die Zahl der Infizierten konstant bleiben würde: Eine Person steckt jeweils eine weitere Person an. Inwiefern das mit der „Exit-Strategie“ der Regierung vereinbar ist, also eine Lockerung des Lockdown rechtfertigt, ist jedoch fraglich.
Ein bisschen „Evidence“, viel „Policy“
Unstrittig ist dagegen: Faktenbasierte Politik, im wissenschaftlichen Sprachgebrauch auch „evidence-based policy“ genannt, braucht Zeit und eine klare Kommunikation. Die Gesundheitsministerin nennt es eine „Wenn, dann“ Politik. Erst wenn die Zahlen es nach drei Wochen erlauben würden, dann könnte die Regierung neue Maßnahmen beschließen. Gleichzeitig prescht die Politik jetzt allerdings in verschiedenen Bereichen vor, ohne die durch die Faktenlage gebotene Geduld zu zeigen.
Vor der Wiederaufnahme der Bauarbeiten schrieb das Ministerium eine repräsentative Gruppe von Arbeitern an, sich testen zu lassen. 2,0 bis 2,3 Prozent sollen laut den Forschern in diesem Sektor infiziert sein – was etwa 1.000 Beschäftigten entspräche. Prof. Ulf Nehrbass, Leiter der Task-Force und Direktor des « Luxembourg Institute of Health », sagte während einer Pressekonferenz am Donnerstag, dass es wichtig sei, „diesen Sektor, sobald wir können, ganz zu untersuchen.“ Mitte Mai sollen die 17 Testzentren öffnen, die dies erlauben würden. Jedoch unterstrich Nehrbass auch, dass es noch immer Probleme bei den Zulieferungen gibt.
Ob durch die Öffnung des Bausektors die Dunkelziffer der Infektionen weiter stieg, weiß zurzeit niemand. Währenddessen öffnet an diesem Montag mit dem Einzelhandel bereits ein weiterer Sektor. Auch hier wurden Angestellte eingeladen, sich testen zu lassen. Die Ergebnisse sind jedoch noch nicht bekannt.
Das unvermeidbare Spiel mit dem Feuer
Die Entscheidung, jetzt weitere Lockerungen vorzunehmen, fußt demnach nur auf einer Modellrechnung der Wissenschaftler. Die Simulation nimmt an, dass durch die Öffnung eine zweite Welle im September kommen könnte, die das Gesundheitssystem jedoch nicht überlasten würde. Modelle sind allerdings immer nur so gut wie die Daten, die sie benutzen. Die Testresultate aus dem Einzelhandel hätten die Zuverlässigkeit erhöhen können. Eine zusätzliche Woche hätte bereits gereicht, um diese wertvollen Daten mit einzubeziehen. Warum also die Eile?
Die Wissenschaftler müssen notgedrungen den Entscheidungen der Regierung hinterherlaufen. Die benötigten Daten für weitere Lockerungsmaßnahmen können sie erst liefern, wenn diese bereits beschlossen wurden. »
Die Gesundheit geht vor: Das war bisher das bestimmende Motto der Regierungspolitik. In den letzten Wochen geriet auch die mentale Gesundheit der Bevölkerung und die ökonomische Perspektive, wenn man so will die Gesundheit der Volkswirtschaft, in den Fokus. Die Gedanken dahinter sind klar: Ein weiter andauernder Lockdown könnte viele Betriebe in die Insolvenz treiben, was mehr Arbeitslose und möglicherweise eine stärkere Beanspruchung der Psyche der betroffenen Bürger zur Folge hätte. Die Regierung muss also mehrere Kurven im Auge behalten. Sie muss abwägen, welche Gesundheit vorgeht.
Die Lockerungen sind nötig, um eine dauerhafte Schädigung der Wirtschaft und weiteren Gesellschaft zu verhindern. Gleichzeitig ist jede Lockerungsmaßnahme ein Spiel mit dem Feuer. Sollte sich rausstellen, dass der Anteil der Infizierten im Einzelhandel größer ist als angenommen, müsste eigentlich der ganze Sektor getestet werden. Zurzeit sind die Testkapazitäten dafür jedoch noch zu gering. Die Wissenschaftler müssen also notgedrungen den Entscheidungen der Regierung hinterherlaufen. Die benötigten Daten für weitere Lockerungsmaßnahmen können sie erst liefern, wenn diese bereits beschlossen wurden.
Widersprüchliche Kommunikation
Ein größeres Problem sehen die Forscher darin aber nicht, zumindest in ihren öffentlichen Aussagen. Das groß angelegte Testen könne « durchaus nachgeholt werden“, erklärte Prof. Ulf Nehrbass während der Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag. Im Interview mit « Radio 100,7 » sagte der Wissenschaftler, dass den Modellen zufolge die Infektionszahlen erst im Juni wieder ansteigen würden, zu dem Zeitpunkt besitze man auch die benötigten Testkapazitäten.
Wie wichtig das frühe Testen jedoch ist, um genau eine solche zweite Welle zu verhindern, beschrieb der Molekularbiologe noch auf der gleichen Pressekonferenz. Die ganze Strategie der Regierung besteht darin, Teile der Bevölkerung früh zu testen, um a- bzw. presymptomatische Fälle rechtzeitig zu erkennen und die Ausbreitung so zu stoppen. Durch diese Möglichkeit von flächendeckenden Tests könne man bereits jetzt verschiedene Berufsgruppen arbeiten lassen, was ohne Tests erst Ende Juni möglich wäre, so die Logik.

Zudem errechneten die Wissenschaftler der CON-VINCE-Studie, dass in Luxemburg etwa 1.449 Menschen asymptomatisch seien. Da bereits im Bausektor etwa 1.000 Personen asymptomisch sind, würde dies bedeuten, dass entweder der Bausektor besonders stark betroffen ist oder eine der beiden Schätzungen falsch liegt.
Für die Politik ist es demnach schwierig, aus diesen Zahlen unzweifelhafte Erkenntnisse zu ziehen. Angaben, in welchem Bereich beide Zahlen liegen könnten, lieferten die Wissenschaftler nicht. Wäre nur eine Person mehr positiv getestet worden, läge die Zahl der asymptomatischen Fälle bei der CON-VINCE-Studie bereits zwanzig Prozent höher. Soll die Politik sich an den Fakten orientieren, müssen die Wissenschaftler diese Unsicherheit also auch erkenntlich machen und Widersprüche klären.
Mehr Wissen, höherer Druck
Die weiterhin bestehende unsichere Faktenlage scheint jedenfalls das Vertrauen der Regierung in die Forschungsergebnisse zu beeinträchtigen. Entweder aus Übermut oder Zweifel an den Berechnungen hat Xavier Bettel (DP) die Möglichkeit in den Raum gestellt, den HORESCA-Sektor im Juni wieder zu öffnen. In ihrem Modell haben die Forscher eine solche Öffnung mit der Organisation einer wöchentlichen Hausparty mit zehn Gästen gekoppelt. In einem solchen Szenario wären selbst mit der Einhaltung der Zwei-Meter-Abstandsregel die Kapazitäten der Intensivbetten im September stark überlastet.
Das Paradox der Coronakrise ist, dass die Politik stärker auf Basis von Fakten entscheiden will, das in der Praxis aber nur bedingt tun kann. »
Faktenbasierte Politik klingt anders. Das Paradox der Coronakrise ist, dass die Politik stärker auf Basis von Fakten entscheiden will, das in der Praxis aber nur bedingt tun kann. Wissenschaft braucht Zeit. Auch wenn die Forscher wahrscheinlich gerade Überstunden anhäufen, können sie dem Tempo der Politik nicht nachkommen.
Zudem besteht für die Öffentlichkeit keine Möglichkeit die neuesten Ergebnisse der Forscher zu analysieren. Die Berechnungen blieben lange unter Verschluss. In Deutschland präsentierte der Leiter des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler zum Höhepunkt der Krise täglich die neuesten Erkenntnisse. Prof. Ulf Nehrbass stellte sich dagegen genau zwei Mal der Luxemburger Presse. Erst jetzt hat der Leiter des « Luxembourg Institute of Health » beschlossen, eine wöchentliche Pressekonferenz einzuführen.
Fast täglich gewinnen Forscher neue Erkenntnisse. Für die Politik lautet die Herausforderung, festzulegen, wann die Faktenlage es erlaubt, weitere Etappen der « Exit-Strategie » einzuleiten. Der erhöhte Druck durch die Wirtschaft und die Bevölkerung verrückt diesen Zeitpunkt immer weiter nach vorne – unabhängig von oder zumindest trotz wissenschaftlich begründbaren Fakten. In ein paar Wochen werden die Erkenntnisse der Forscher noch umfassender sein – der Druck auf die Politik dürfte dadurch aber nicht abnehmen.
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