Nicht nur die Umfragen zeigen: Die CSV ist für das kommende Superwahljahr denkbar schlecht aufgestellt. Eine Personaldiskussion will die Partei unbedingt vermeiden. Ein nationaler Spitzenkandidat soll so spät wie möglich ernannt werden – wenn überhaupt. Eine Analyse.
Am 14. Oktober 2018 ging die Welt für die CSV ein zweites Mal unter. Nach dem Machtverlust fünf Jahre zuvor verpasste die Partei auch dieses Mal den Sprung in Regierungsverantwortung. Während man nach 2013 noch mit dem « Wählerwillen » haderte und den Nimbus der nach wie vor « stärksten Partei » beschwor, breitete sich nun zunehmend Resignation aus. Die einstige Arroganz der Macht wich zunehmend der Verzweiflung.
Die Wahl von Frank Engel zum Parteivorsitzenden und die folgende « Freundeskreis »-Affäre lähmte die Partei zusätzlich. Statt sich in der Opposition zum schlagkräftigen Herausforderer zu Blau-Rot-Grün zu entwickeln, war die Partei lange mit sich selbst beschäftigt. In den Umfragen befand man sich bald im freien Fall. Seit gut einem Jahr pendelt sich die CSV laut der von « RTL » und « Luxemburger Wort » in Auftrag gegebenen « Sonndesfro » bei 15 Sitzen (sechs weniger als bisher) ein. In Zeiten von Pandemie, Ukrainekrieg und Energiekrise ist die Schwäche der CSV eine der wenigen Konstanten in der Luxemburger Politik.
Zur Plan- und Orientierungslosigkeit gesellt sich auch ein akuter Mangel an Führungspersonal. Claude Wiseler übernahm 2018 als Spitzenkandidat die Verantwortung für die Wahlniederlage und wollte sich eigentlich aus der ersten Reihe zurückziehen. Nachdem die Episode Frank Engel für die Partei im Desaster endete, wurde Wiseler selbst Parteipräsident – nicht zuletzt, weil kein anderer diesen Posten wollte. Und auch in der Pandemie war der frühere Spitzenkandidat wieder das Sprachrohr seiner Partei.
Hauptsache wieder Regierung
Zumindest einen Fehler will die Partei aber nicht noch einmal machen: die Frage der Spitzenkandidatur so früh zu entscheiden wie beim letzten Mal. Innerhalb der Partei besteht ein großer Konsens darüber, dass der Zeitpunkt der Kür von Claude Wiseler vor den Wahlen 2018 falsch war. Der damalige CSV-Fraktionschef wurde schon im Sommer 2016, also mehr als zwei Jahre vor dem Wahltermin, zum Spitzenkandidaten ernannt. Im Wahlkampf sei ihm dann die Luft ausgegangen, so der Eindruck vieler Parteikollegen.
« Claude Wiseler war im vergangenen Wahlkampf schon früh verbrannt », sagt Gilles Roth gegenüber Reporter.lu. Er sei überzeugt, dass seine Partei « aus der Vergangenheit lernen » müsse. Dazu gehörten inhaltliche, aber auch wahlstrategische Fragen wie das Timing der Kandidatenkür. Der Co-Fraktionschef der CSV spricht sich dafür aus, die Frage des nationalen Spitzenkandidaten « erst nach den Gemeindewahlen », also frühestens Ende Juni 2023, zu klären.
Sie können davon ausgehen, dass wir uns mit all diesen strategischen Fragen auseinandersetzen. »
Claude Wiseler, Parteivorsitzender
Auch weitere Parteikollegen, wie Co-Generalsekretär Christophe Hansen, plädieren dafür, die Personaldebatte so lange wie möglich hinauszuzögern. Aber nicht nur das: Innerhalb der Parteiführung wurde noch nicht einmal entschieden, ob man überhaupt wie in der Vergangenheit mit einem nationalen Spitzenkandidaten in die Parlamentswahlen am 8. Oktober 2023 gehen wird.
Claude Wiseler, der als Parteivorsitzender eine wichtige Rolle bei der Aufstellung der Wahllisten spielt, ließ die Frage im Interview mit Reporter.lu ausdrücklich offen. Man habe sich lediglich darauf verständigt, die Frage « sechs Monate vor den nächsten Wahlen » zu diskutieren, so der CSV-Präsident im vergangenen Jahr. « Das wird dann die richtige Entscheidung sein, sei es ein Kandidat, zwei Kandidaten, vier oder wie viel auch immer. »
Laut Co-Fraktionschefin Martine Hansen seien Personalfragen aktuell schlicht « kein Thema ». Auch andere Parteien würden mit dieser Entscheidung noch warten. Die Frage der Spitzenkandidatur sei auch « nicht unbedingt entscheidend », sagt seinerseits Gilles Roth. « Unser Ziel ist es, in der nächsten Regierung vertreten zu sein », ergänzt Parteichef Claude Wiseler. Zwischen den Zeilen heißt das: Man kann sich mittlerweile auch eine Regierungsbeteiligung vorstellen, ohne den Premier zu stellen.
Kein Spitzenkandidat in Sicht
Die Strategie dahinter ist offensichtlich: Man will sich möglichst viele Optionen offenhalten. Doch gleichzeitig ist sie ein Spiegelbild der Verfassung der in den Umfragen dahinschwindenden « Volkspartei ». Sollte die CSV tatsächlich ohne nationalen Spitzenkandidaten ins Rennen gehen, wäre das ein Eingeständnis, dass die ehemals ewige Regierungspartei selbst nicht mehr an eine Rückkehr ins Staatsministerium glaubt. Nach dem Motto: Aufgeben, bevor es losgeht.

Allerdings ist das Zögern auch dem Umstand geschuldet, dass sich in der CSV eben keine klare Führungspersönlichkeit abzeichnet. Im Prinzip wären Gilles Roth und Martine Hansen als Fraktionschefs prädestiniert für eine Spitzenkandidatur. Beide lassen diese Ambition bisher aber nicht durchblicken. Ihre Eignung für die Spitzenposition ist in der Partei auch umstritten. Gleiches gilt für Fraktionsvize Léon Gloden. Ein weiterer Kandidat wäre Serge Wilmes. Doch der Erste Schöffe der Hauptstadt konzentriert sich seit geraumer Zeit fast komplett auf sein kommunales Mandat. In der Abgeordnetenkammer tritt der 40-Jährige fast gar nicht mehr mit politischen Initiativen in Erscheinung, auch bei Fraktionssitzungen ist er ein selten gesehener Gast.
An der Personalie Serge Wilmes zeigt sich zudem das Problem der Gemeindewahlen als mögliches Sprungbrett für die Nationalwahlen. Sollte der CSV-Schöffe in der Hauptstadt den Bürgermeisterposten ergattern, kann er schwer vier Monate später diese historische Chance zugunsten eines eventuellen Ministermandats riskieren. Würde Wilmes jedoch bei den Gemeindewahlen im Juni schlecht abschneiden, wäre das wiederum kein Argument, um bei den Parlamentswahlen auf ihn als Spitzenmann zu setzen.
Formell kann sich die CSV aber in der Tat Zeit lassen. Laut ihren Statuten entscheidet zunächst der Nationalvorstand, ob überhaupt ein Spitzenkandidat auf National- und Bezirksebene gewählt werden soll. Anschließend soll der Parteivorsitzende mögliche Kandidaturen sondieren. Der Nationalrat, dem 160 Personen angehören, muss dann den Kandidaten oder die Kandidatin absegnen. Die eigentliche Wahl soll aber erst auf einem eigens dafür einberufenen Konvent stattfinden. Eine Urwahl aller Parteimitglieder ist in den Statuten nicht vorgesehen.
Das Parteigespenst Luc Frieden
Einen internen Wahlkampf, wie vor den vergangenen Wahlen, will die CSV aber ohnehin vermeiden. Damals waren neben Claude Wiseler auch Luc Frieden, Martine Hansen und Viviane Reding offiziell im Rennen um die Spitzenkandidatur. Viviane Reding hat sich mittlerweile aus dem Parlament in die politische Rente verabschiedet. Luc Frieden ist allerdings ein Name, der in manchen CSV-Kreisen immer noch als mögliche Lösung für die Kandidatenfrage zirkuliert. In Interviews, wie kürzlich bei « Radio 100,7 », schließt der frühere Minister und heutige Präsident der Handelskammer eine Rückkehr in die aktive Politik zumindest nicht aus.
Die Rolle als Oppositionspolitiker passt weniger zu meinen Charaktereigenschaften. »Luc Frieden, früherer CSV-Minister
Der Weg dahin wäre jedoch steinig. Luc Frieden spielt in der Partei keine Rolle mehr und will sich auch nicht zu Themen äußern, die die CSV betreffen. Zudem haben viele CSV-Mitglieder ihm seinen abrupten Abschied von der nationalen Politikbühne immer noch nicht verziehen. Als er 2014 freiwillig aus dem Parlament ausschied und in die Privatwirtschaft wechselte, begründete der frühere Minister diesen Schritt auch mit dem Satz: « Die Rolle als Oppositionspolitiker passt weniger zu meinen Charaktereigenschaften. » Innerhalb der Partei wurden diese Worte oft so verstanden, als ob sich Frieden für die Oppositionsbank zu schade wäre.
Dass der frühere Finanz- und Justizminister überhaupt als Alternative gehandelt wird, bekräftigt aber den Mangel an Führungskräften in der CSV. Sollte Luc Frieden als Spitzenkandidat auf die Politikbühne zurückkehren, würde das zwangsläufig bedeuten, dass die aktuelle Führungsriege der Partei sich diesen Posten nicht zutraut – oder eine Wahlniederlage als unausweichlich ansieht. Fraglich wäre auch, ob ausgerechnet Frieden die fortschreitende christlich-soziale Lethargie überwinden und eine neue politische Dynamik entfachen könnte.
Erneuerung über die Gemeinden
Die ungeklärte Führungsfrage lässt tief in das Seelenleben der Partei blicken. Anders als vor fünf Jahren glaubt im Grunde niemand an einen Wahlsieg. Viele Mandatsträger träumen angesichts der desaströsen Umfragewerte weniger von einer Spitzenkandidatur, als dass sie um ihren Verbleib im politischen Geschäft bangen. Sowohl in der Fraktion als auch in der Parteiführung mangelt es an Personen, die eine politische Inspiration versprühen, wie die CSV in der Wählergunst wieder attraktiver werden könnte.
Noch schwerer wiegt, dass längerfristig keine Besserung in Sicht ist. Zwar bemüht sich Claude Wiseler als Vorsitzender um eine Erneuerung der Partei. Dazu gehören etwa Co-Präsidentin Elisabeth Margue, Co-Generalsekretärin Stéphanie Weydert und Vize-Präsidentin Anne Logelin. Doch auch die vergleichsweise jüngeren und unbekannteren Köpfe der CSV lassen machtpolitische Ambitionen und inhaltliche Initiativen bisher vermissen – zumindest, was die nationale Ebene betrifft. Im Zweifel schwimmen sie im Strom einer Partei mit, die zwar unbedingt zurück in die Regierung will, den Menschen aber nicht ansatzweise erklären kann, warum.

In den Gemeinden sieht die Zukunft der Partei dagegen nicht ganz so schlecht aus. Bei den Kommunalwahlen 2017 konnte die CSV wichtige Erfolge erzielen, die es im kommenden Juni zu verteidigen gilt. Ob daraus irgendwann eine personelle Erneuerung entstehen kann, die der Partei auf nationaler Ebene zu einer neuen Dynamik verhelfen könnte, ist zwar nicht abzusehen. Die Hoffnung, dass man zumindest beim ersten Wahltermin des kommenden Jahres vernünftig abschneiden kann, ist aber noch nicht gestorben.
Acht Spitzenkandidaten gesucht
Um Wahlen zu gewinnen, braucht man aber eben auch überzeugende Kandidaten. Für die vier Monate nach den Gemeindewahlen stattfindenden Parlamentswahlen lautet momentan das realistischste Szenario: Ähnlich wie die Parteien der Dreierkoalition würde auch die CSV mit paritätisch besetzten Spitzenduos pro Bezirk antreten. Demnach würde sie insgesamt acht Spitzenkandidaten, vier Männer und vier Frauen, nominieren. Wie es aus Parteikreisen verlautet, könne man sich zudem pro Bezirk eine Kombination von erfahreneren Politikerinnen und Politikern und vielversprechenden Nachwuchskräften vorstellen.
Dabei scheinen Gilles Roth (Süden), Martine Hansen (Norden) und Léon Gloden (Osten) gesetzt. Im Zentrum hat die Partei mit Claude Wiseler, Serge Wilmes und Paul Galles mehrere Optionen. Weitere aussichtsreiche Spitzenleute für die Bezirke wären in diesem Szenario Elisabeth Margue (Zentrum), Anne Logelin (Süden), Stéphanie Weydert (Osten) und Christophe Hansen (Norden).
In jedem Fall fällt den Bezirksvorständen der CSV bei der Aufstellung der Wahllisten eine entscheidende Rolle zu. Sie schlagen laut den Parteistatuten jeweils drei Viertel aller Kandidaten auf einer Bezirksliste vor. Bei den restlichen Kandidaten kann die Partei- und Fraktionsführung über die Wahlkommission eigene personalpolitische Akzente setzen.
Erst das Programm, dann die Personen
Eine Konzentration auf die Bezirksebene trägt sicher dem Luxemburger Wahlrecht Rechnung, das keine nationalen Spitzenkandidaten kennt. Und doch wird die CSV im Laufe des Wahlkampfs eine Antwort auf die Frage parat haben müssen, wer denn die Richtung vorgibt. Spätestens nach den Wahlen, bei möglichen Koalitionsgesprächen, muss jemand die Verhandlungsführung übernehmen. « Sie können davon ausgehen, dass wir uns mit all diesen strategischen Fragen auseinandersetzen », sagt Claude Wiseler im Gespräch mit Reporter.lu. Eine Entscheidung soll jedoch nicht vor dem nächsten Landeskongress im März getroffen werden.
Wir haben aus 2018 gelernt und werden uns nicht mehr so früh festlegen. »Christophe Hansen, Co-Generalsekretär
Bis dahin werde man sich auf die Formulierung von Alternativen zur Regierungsarbeit konzentrieren, so der Parteivorsitzende weiter. Parallel würden bereits die Arbeiten am nächsten Wahlprogramm beginnen. Aus den schlechten Umfragewerten liest Claude Wiseler nicht zuletzt heraus, dass die CSV stärker als glaubwürdiger Gegenentwurf zur Dreierkoalition wahrgenommen werden soll. Gleichzeitig müsse man aber auch « erkennbare inhaltliche Schnittmengen » mit den anderen Parteien aufweisen, um die Chance auf eine Regierungsbeteiligung zu bekommen.
Ganz zum Schluss gehe es dann darum, « eine oder mehrere Personen zu finden, die unser Programm verkörpern » können. Ob das aus Mangel an Alternativen wieder er selbst sein wird, will Claude Wiseler nicht kommentieren. Und auch die Frage, ob er womöglich der letzte Spitzenkandidat der CSV gewesen sein könnte, der realistische Chancen auf das Amt des Regierungschefs hat, lässt der in politischer Korrektheit erprobte Ex-Spitzenkandidat mit einem Schmunzeln ins Leere laufen – bis auf Weiteres.




