Am Montag jährt sich der Amoklauf von Winnenden zum zehnten Mal. 15 Menschen wurden an diesem 11. März 2009 ermordet, darunter Gisela Mayers Tochter Nina. Sie ist Lehrerin an der Albertville-Realschule und wird in einem Klassenzimmer erschossen. Noch am gleichen Tag klingeln Journalisten an Gisela Mayers Haustür und dringen in ihren schlimmsten Momenten in ihre Privatsphäre ein.
Heute bringt Gisela Mayer Journalisten bei, wie man mit leidenden Menschen umgehen soll. Ein Gespräch über unangebrachtes Verhalten, bereichernde Interviews und warum Journalisten immer authentisch sein sollten.
Interview: Matthias Kirsch
Frau Mayer, Sie gehören zu den Kritikern der Berichterstattung nach dem Amoklauf von Winnenden. Welche Fehler wurden in Winnenden gemacht?
Viele Medienvertreter haben in Winnenden Grenzen überschritten. Durch die Berichterstattung sind Verletzungen passiert, die oft jahrelang nachgewirkt haben – bei Schülern, Lehrern und Eltern. Es gab Fernsehinterviews mit jungen Menschen, die gerade dem Tod entronnen waren, die völlig verstört waren. Das hätte nie passieren dürfen. Und vor allem hätten diese Bilder nie gezeigt werden dürfen.
Wie haben sich die Pressevertreter Ihnen gegenüber verhalten an diesem Tag?
Neben der Albertville-Realschule gab es eine Halle, in der sich Rettungskräfte versammelt hatten. In dieser Halle habe ich die Nachricht des Todes meiner Tochter erfahren, danach habe ich diese Halle und die Menschen darin nicht mehr ertragen. Ich habe einen Platz der Ruhe gesucht, bin aus der Halle getreten – und stand 15, 20 Mikrofonen gegenüber. Ich war zu diesem Zeitpunkt völlig überfordert.
Sie sind anschließend nach Hause gefahren…
… wo fünf Minuten später ein Pressevertreter an der Tür geklingelt hat, mit dem Wunsch, jetzt ein Interview zu führen. Obwohl ich niemandem meine Adresse weitergegeben hatte. Das konnte ich gerade so abwehren, aber am nächsten Tag kam wieder jemand. Dann habe ich meine Haustür aufgemacht. Es war das einzige Mal und ich habe es bereut.
In einer Akutsituation muss der Journalist allein die Verantwortung für die Führung des Gesprächs übernehmen – denn sein traumatisierter Gegenüber kann das nicht tun. »
Was ist passiert?
Diese Medienvertreterin ist viel zu nah an meine Familie herangetreten. Es ging nur um private Empfindungen, um Privatleben. Es war nicht ausreichend, dass Eltern über ihr Kind berichten. Da muss man dann ins Kinderzimmer, die Dinge anfassen. Ich war in diesem Augenblick aber nicht in der Lage, zu verstehen, was es bedeutet, das eigene Privatleben öffentlich zu machen. Es wäre schön gewesen, die Dame hätte von sich aus Abstand gewahrt.
Glauben Sie, dass diese Person nicht geschult war im Umgang mit Leid und leidenden Menschen?
Das kann ich heute nicht sagen. Aber es war die Chefredakteurin einer Zeitschrift. Sie hätte sehen können, dass Sie es mit Leuten zu tun hat, die von der Situation völlig überfordert waren.
Diese Erfahrung hat Sie bereits 2009, noch im Jahr des Amoklaufs, dazu bewegt, aktiv zu werden. Sie bringen seitdem Journalisten den Umgang mit Leid bei. Warum?
Es hat angefangen mit einer Podiumsdiskussion von Netzwerk Recherche. Es ging um die missbräuchliche Verwendung von Fotografie, die auch nach Winnenden stattfand. Auch weiterhin werden irgendwo in Deutschland und auf der Welt Schadensereignisse geschehen und dementsprechend wird es Berichterstattung geben. Ich möchte dazu beitragen, dass weniger verletzende Missgeschicke passieren.

Dazu mussten Sie in die Öffentlichkeit treten. Sie sind in Talkshows aufgetreten und in Zeitungsartikeln aufgetaucht. Viele Menschen, auch in Winnenden, haben Ihnen Eigensinn vorgeworfen.
Mir wurde gesagt, ich würde mich wichtig machen. Solche Unterstellungen sind verletzend. Und es wäre leicht gewesen, mit dem Engagement aufzuhören: Mein Kind ist eh tot, warum sollte ich mich um andere kümmern? Das hätte für einen Rückzug aus der Öffentlichkeit gesprochen.
Wieso haben Sie das nicht getan?
Nach Winnenden sind Dinge passiert, die hätten verhindert werden können. Und ich habe gesehen, dass ich einen Teil dazu beitragen kann, dass diese Dinge in Zukunft tatsächlich verhindert werden. Das ist eine menschliche Grundhaltung. Wenn Sie sich die Finger an einer heißen Herdplatte verbrannt haben und jemand anders betritt den Raum, dann sagen Sie: Vorsicht, pass auf. Das war meine Motivation.
Gibt es Faustregeln, die Sie Journalisten mitgeben?
Durchaus. Der erste Punkt ist: Sich Grundwissen über Symptome von Traumatisierung aneignen. Damit man erkennt, dass man gerade mit einem völlig traumatisierten Menschen spricht. Denn, und das hat die Journalistin in meinem Fall nicht erkannt, in einer Akutsituation muss der Journalist allein die Verantwortung für die Führung des Gesprächs übernehmen – denn sein traumatisierter Gegenüber kann das nicht tun.
Journalisten müssen den Mut haben zu sagen: Ich bin überfordert, ich habe kein fertiges Konzept für diese Situation. Eine ehrliche Haltung ist besser als eine rein professionelle. »
Wie ehrlich müssen Journalisten sein?
Das ist der zweite Punkt: Journalisten müssen in Akutsituationen authentisch sein. Professionell, aber nicht zu professionell. Mensch bleiben. Journalisten müssen den Mut haben zu sagen: Ich bin überfordert, ich habe kein fertiges Konzept für diese Situation. Eine ehrliche Haltung ist besser als eine rein professionelle. Und der dritte Punkt ist: Den Gesprächspartner ernst nehmen. Ein Journalist darf sein Gegenüber niemals wie ein kleines Kind behandeln – denn Menschen, die gerade Leid erfahren haben, haben einen sehr klaren, sensiblen Blick und entlarven Sie sofort.
Gab es auch Journalisten, die sich „richtig“ verhalten haben Ihnen gegenüber?
Ja, meist Journalisten mit Erfahrung. Die von Anfang an sagten, dass sie nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Diese authentische, ehrliche Haltung hat immer zu guten Gesprächen geführt. Und mich sogar zum Nachdenken angeregt.
Inwiefern?
Das bemerkenswerteste Gespräch habe ich zum Thema Verzeihen und Vergeben geführt (Anm.: mit Andreas Unger für « STERN »). Ich hatte mich zwar schon mit der Person des Täters beschäftigt, aber über den Prozess des Verzeihens habe ich erst nach diesem Gespräch nachgedacht. Das ist ein Moment, für den ich dankbar bin – und nicht nur die Gebende war, sondern für mich sehr viel gewonnen habe.
Ich habe immer diesen Satz eines Privatsenders im Kopf, der exemplarisch für die Haltung des damaligen Tages steht: ‘Ich bin hier in Winnenden, das ist ein Mega-Event.' »
Hat das Engagement Ihnen also dabei geholfen, Ihre Erfahrungen zu verarbeiten?
Nein, das nicht. Ich habe früh entschieden, meine Trauer und Betroffenheit im Privaten zu bewältigen. Was ich öffentlich getan habe, war meiner Überzeugung geschuldet, dass ich unfreiwillig über einen Erfahrungsschatz verfüge, den ich anderen zur Verfügung stellen möchte. Nämlich denen, die sinnvoll etwas damit anfangen können.
Viele Menschen haben nach Winnenden den gegensätzlichen Weg gewählt und sich verschlossen.
Die Rücksichtslosen unter Ihren Kollegen haben verbrannte Erde hinterlassen. Auf Seite der Angehörigen und Betroffenen ist dadurch eine Abwehrhaltung entstanden. Ich finde das bedauerlich. Denn vieles, was mitgeteilt werden könnte und für andere hilfreich wäre, geht dadurch verloren.
War in Winnenden die Sensation so viel wichtiger als die rücksichtsvolle Berichterstattung?
Ein definitives, klares „Ja“. Ich habe immer diesen Satz eines Privatsenders im Kopf, der exemplarisch für die Haltung des damaligen Tages steht: „Ich bin hier in Winnenden, das ist ein Mega-Event.“