Die EU-Kommission will Missstände bei der Besteuerung von Konzernen beheben. Luxemburg hat bei diesem politischen Poker einiges zu verlieren. Es geht nicht nur um Einnahmen, sondern um die letzte Bastion gegen eine einheitliche EU-Politik: das Vetorecht in Steuerfragen.
Der Finanzplatz Luxemburg und die Europäische Kommission: Es ist seit Jahren kompliziert. Der litauische Kommissar Algirdas Šemeta kippte das Bankgeheimnis, die Dänin Margrethe Vestager kämpfte gegen Steuerrulings und der Franzose Pierre Moscovici setzte strenge Regeln gegen die Steuervermeidung von Konzernen durch.
Der Italiener Paolo Gentiloni reiht sich in diese Tradition ein. Ein „hartes Durchgreifen“ kündigte der Wirtschafts- und Steuerkommissar in der „Financial Times“ an. Steuerhinterziehung durch Privatpersonen koste die EU-Staaten jährlich 46 Milliarden Euro, die Steuervermeidung durch Konzerne 35 Milliarden Euro. „Das ist ein Skandal. Und dieser Skandal kann nicht weitergehen“, sagte Paolo Gentiloni am 15. Juli bei der Vorstellung eines neuen Steuerpakets.
Die Notwendigkeit einer Veränderung ist aus der Sicht Brüssels glasklar: Die Einstimmigkeit in Steuerfragen erlaubt es Mitgliedstaaten neue Regeln zu blockieren. Deshalb sucht die Kommission seit Jahren Mittel und Wege, ihren Reformwillen durchzusetzen. Jetzt erneuerte die Kommission ihre Drohung, notfalls das faktische Vetorecht der Länder zu umgehen. Die mögliche Wunderwaffe besteht in bisher nie angewendeten Artikeln der EU-Verträge.
Drohgebärden aus Brüssel
Das hat etwas von Folterknechten, die den Bösewichten ihre Folterinstrumente zeigen. Allein aus Angst sollen Zugeständnisse erpresst werden. Die Botschaft Brüssels an die Hauptstädte: Wenn ihr nicht spurt, dann wählen wir eine härtere Gangart.
Das Problem: Die Kommission holt die Folterinstrumente immer wieder aus dem Schrank, aber traut sich dann doch nicht, sie anzuwenden. Und wer hat’s erfunden: Jean-Claude Juncker. Als Kommissionspräsident sagte er 2017, dass er sich in Steuerfragen Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit wünsche. Zu diesen zählte er die Harmonisierung der Unternehmenssteuern, eine Finanztransaktionssteuer und eine moderne Besteuerung von Digitalkonzernen. Drei rote Tücher für jeden Luxemburger Regierungschef – aber das war Juncker zu diesem Zeitpunkt ja nicht mehr.
Der Artikel 116 hat Potenzial und ist deshalb keine leere Drohung.“Professor Werner Haslehner, Uni Luxemburg
Nun geht es in die nächste Runde. „Brüssel plant Attacke auf Mitgliedstaaten mit geringen Steuern“, titelte die wohlinformierte Zeitung „Financial Times“ einen Tag vor der Vorstellung des Steuerpakets Mitte Juli. Luxemburg, Belgien, die Niederlande und Irland seien im Visier der Kommission, schreibt die „FT“. Im Rahmen des Europäischen Semesters wies die EU-Kommission erneut darauf hin, dass Luxemburger Steuerregeln zu „aggressiver Steuergestaltung“ genutzt würden.
Die ungenutzte Waffe des EU-Vertrags
Konkret geht es um den Artikel 116 aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der EU. Stellt die Kommission fest, dass Regeln den Wettbewerb in der EU verzerren, dann kann sie das mit dem betreffenden Staat klären oder eine Richtlinie vorschlagen, die das Problem beheben soll. Der Clou: Über diesen Vorschlag wird dann mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt. Das Veto in Steuerfragen kann damit ausgehebelt werden.
Die Reaktion aus Luxemburg ließ nicht lange auf sich warten. Die Regierung sei für eine gerechte Steuerpolitik in der EU. Doch den Rückgriff auf Artikel 116 in Steuerfragen unterstütze Luxemburg nicht. Das ist die undiplomatische Antwort von Finanzminister Pierre Gramegna (DP) auf eine diesbezügliche Frage des CSV-Abgeordneten Laurent Mosar.
„Es ist in erster Linie eine Drohgebärde“, erklärt der Professor für europäisches und internationales Steuerrecht Werner Haslehner. „Aber der Artikel 116 hat trotzdem Potenzial und ist deshalb keine leere Drohung“, betont der Professor der Universität Luxemburg.

Anders gesagt: Es ist eine Waffe, die noch nie genutzt wurde. Und deshalb ist nicht klar, wie und mit welcher Wirkung sie eingesetzt werden kann. „Wir wissen nicht, wie breit der Einsatz des Artikels möglich ist, weil es dazu keine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs gibt“, betont Werner Haslehner.
Der Steuerexperte ist zudem überzeugt, dass die Kommission dieses Mittel nicht braucht. Es habe vielfältige Fortschritte in der Steuerpolitik der letzten Jahre gegeben – trotz der Einstimmigkeitsregel. In den Streitfällen um Apple, Fiat und Starbucks habe der EuGH Brüssel die Kompetenz zugesprochen, die nationalen Steuerpraktiken genau zu kontrollieren.
Pläne der Kommission bleiben im Dunklen
Klar ist, dass die Kommission erst mit den Mitgliedstaaten diskutieren müsste, bevor sie Artikel 116 einsetzt. Dafür gibt es außerhalb der Anmerkungen in den Berichten zum „Europäischen Semester“ bisher keine Hinweise. Erst wenn sich die Staaten weigern würden, ihre Regeln zu ändern, könnte die Kommission den Artikel 116 einsetzen. Im Falle Luxemburgs monierte Brüssel, dass Zahlungen von Luxemburger Gesellschaften ins Ausland nicht ausreichend besteuert würden.
Für Luxemburg bedeutet das angekündigte „harte Durchgreifen“ Brüssels eine weitere Unsicherheit in der aktuellen Krise.“
Unbestritten ist, dass diese Waffe stumpf ist, wenn es darum geht, Bewegung in andere, aktuell festgefahrene Vorhaben der EU-Kommission zu bringen. Es geht dabei um die weitreichende Harmonisierung der Besteuerung von Konzernen namens CCCTB (frz. Accis) und die Steuer auf Digitalunternehmen wie Google, Facebook und Co. Der ehemalige Kommissar Pierre Moscovici stellte 2019 klar, dass diese Maßnahmen einstimmig durch die Mitgliedstaaten beschlossen werden müssten.
Die Frage ist also, was die Kommission sich genau vorstellt. Das im Juli vorgestellte Steuerpaket gibt darauf keine konkrete Antwort. Es soll eine Überarbeitung der „schwarzen Listen“ von Steuerparadiesen geben. Eine Reform des Verhaltenskodexes („Code of Conduct“) gegen unfaire Steuerpraktiken der Mitgliedsländer kündigte die Kommission ebenfalls an. Ein detaillierter Aktionsplan zur Unternehmensbesteuerung kommt aber erst im Herbst.
Luxemburgs Steuerlandschaft im Umbruch
Für Luxemburg bedeutet das angekündigte „harte Durchgreifen“ Brüssels eine weitere Unsicherheit in der aktuellen Krise. Im ersten Halbjahr zahlten die Unternehmen im Vergleich zu 2019 ein Drittel weniger Steuern, zeigen die Zahlen des Finanzministeriums.
Dazu kommt, dass die Auswirkungen der neuen Steuerregeln der vergangenen Jahre noch nicht einzuschätzen sind – insbesondere die Folgen der sogenannten Atad-Richtlinien. In einem rezenten Bericht fragt der Wirtschafts- und Sozialrat etwas ratlos, ob die Regierung Zahlen dazu hat.
Dabei sind die Einnahmen Luxemburgs extrem von diesen Regeln abhängig. Internationale Unternehmen zahlten 2016 laut OECD-Statistik immerhin 54 Prozent der Körperschaftssteuer. Schon allein von den Finanzbeteiligungsgesellschaften ist Luxemburg abhängig: Die sogenannten Soparfi zahlten 2019 ein Drittel aller Unternehmenssteuern. Auffällig ist, dass die Investmentfondsverwalter in den vergangenen Jahren deutlich mehr Steuern zahlten. Von Januar bis September 2019 zahlten sie mit 521 Millionen Euro mehr als die Banken mit 422 Millionen Euro.
Zumindest bei den Soparfi bleiben die Zahlen noch stabil. Die Finanzaufsicht CSSF verzeichnete einen leichten Rückgang der von Finanzdienstleistern betreuten Beteiligungsgesellschaften: 2018 waren es 11.547, 2019 waren es 10.850. Einen leicht Negativtrend zeigen auch die Zahlen der Statistikbehörde Statec.
Handelskammer setzt auf alte Konzepte
Die Kombination einer weltweiten Wirtschaftskrise mit dem Kampf gegen Steuervermeidung ist ein explosives Gemisch für die Luxemburger Staatsfinanzen. Das Argument Brüssels: Nur eine faire Besteuerung aller garantiert ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum.
Die Luxemburger Handelskammer setzt in ihrem Konjunkturprogramm dagegen auf alte Forderungen: den Steuersatz für Unternehmen senken und zahlreiche Nischen ausbauen. In einem Bericht des Wirtschafts- und Sozialrats fordern die Unternehmensvertreter gar, die Vermögenssteuer abzuschaffen – immerhin eine Einnahme von 700 Millionen Euro. Zusätzlich soll die Gewerbe- mit der Körperschaftssteuer zusammengelegt werden. Des weiteren soll das Steuerprivileg für Manager in Form der „stock options“ ausgebaut werden, fordert die Unternehmerlobby. Die Frage der Gegenfinanzierung lässt sie jedoch offen.
Der Handelskammerpräsident und Ex-Finanzminister Luc Frieden erklärt das anlässlich einer Pressekonferenz so: Der Finanzplatz müsse attraktiv bleiben, um die gesamte Wirtschaft mitzuziehen – sozusagen als „trickle down“. So weit Luc Frieden, dem Jean-Claude Juncker bescheinigt haben soll, weder etwas von Finanzen noch etwas von Politik zu verstehen. Zumindest scheint die Dynamik in Brüssel eine andere zu sein, als im Hauptquartier der Handelskammer in Kirchberg.