Die britische Bau- und Handwerkskunst ist eher berüchtigt als berühmt. Genau deshalb lässt sie aber auch tief in Teile der britischen Seele blicken und hilft vielleicht sogar, den Brexit besser zu verstehen. Ein persönlicher Blick aus London.
Je länger ich in Großbritannien lebe, desto mehr beschäftigt mich die Frage, ob sich die Wirren der Brexit-Verhandlungen nicht auch in einem Bereich widerspiegeln, den vermutlich niemand auf Anhieb mit dem politischen Treiben zwischen London und Brüssel in Verbindung bringen würde: der britischen Baukunst im Speziellen und der Einstellung zu Reparaturen und Baumaßnahmen aller Art im Allgemeinen. Ich gebe zu, es mag absurd klingen, aber warten Sie es ab.
Ein hervorragendes Beispiel, um meine These zu verdeutlichen, sind die Bauarbeiten an dem Haus, in dem ich lebe. Genauer gesagt handelt es sich um drei große Stadthäuser, die sich im Norden Londons aneinanderreihen. Das Dach war undicht, also beschloss der Vermieter es neu decken zu lassen – soweit eine sinnvolle Überlegung. Ein Auftrag wurde ausgegeben, die Dachdecker rückten im Sommer an. „Keine Sorge!“ hieß es damals vonseiten der Firma, „das Dach ist bis zum Herbst neu“. Sodann machte man sich ans Werk – und das Unglück nahm seinen Lauf.
Vollmundige Versprechungen
Erst im darauffolgenden November waren alle Arbeiten abgeschlossen, in der Zwischenzeit hatte man drei Dachgeschosswohnungen akut sanierungsbedürftig gemacht und einen Schaden verursacht, der in die Zehntausende ging. Englische Freunde hatten mich vor Beginn der Arbeiten noch gewarnt: „Du kannst nur hoffen, dass es keine englische Firma ist“, hieß es und „Bete, dass sie europäische Handwerker vom Festland beauftragt haben. Die wissen wenigstens, was sie tun.“ Ich sollte noch lernen, was sie damit meinten.
Beide Vorhaben haben Überschneidungspunkte. Zum Beispiel mangelnde Expertise, fehlende Planung und gnadenlose Selbstüberschätzung.
Was war geschehen? Wie auch beim Brexit begann das Unheil mit vollmundigen Versprechungen. Drei Dächer, wie behauptet, innerhalb weniger Wochen neu decken? Ein Ding der Unmöglichkeit ist dies eigentlich nicht – es sei denn man beschäftigt nicht mehr als drei Mann, die täglich nur von neun bis vier, inklusive Mittagspause, daran arbeiten und vom Dachdecken ungefähr so viel verstehen, wie Boris Johnson von taktvollem Auftreten. Auch der Brexit begann mit ähnlichen Ankündigungen: „Wir holen uns unser Land zurück!“, „Wir retten unser Gesundheitssystem.“, „Wir stoppen die Masseneinwanderung.“ Die Liste ließe sich beliebig lange fortsetzen. In beiden Fällen ist keines dieser Versprechen jemals eingetreten.
Problematische Umsetzung
Doch beide Vorhaben haben noch mehr Überschneidungspunkte. Zum Beispiel mangelnde Expertise, fehlende Planung und gnadenlose Selbstüberschätzung. Die Brexit-Kampagne hatte „enough of experts“, keine Szenarios für den Tag nach der Stunde Null und eine verblendete Gurkentruppe, die das blaue vom Himmel herunterlog.
Die britische Dachdeckerfirma wiederum hielt es für eine gute Idee alle Dächer auf einmal komplett abzudecken ohne das widerspenstige britische Wetter und die Notwendigkeit für eine vorübergehende Abdeckung einzukalkulieren, um dann den Chef behaupten zu lassen, dass man das alles schon wuppen werde, bevor der erste Regen käme. Drei Tage später brach ein Unwetter herein und flutete drei Wohnungen. Wie auch beim Brexit war es ein vermeidbares Chaos mit Ankündigung. Immerhin: Wohnungen lassen sich reparieren. Ein gespaltenes Land auf dem Weg in die post-europäische Bedeutungslosigkeit? Hier sieht die Lage schon anders aus.
Angst vor dem Tod einer alten Ordnung
Doch nicht nur im Kleinen lassen sich Parallelen ziehen. Ein Beispiel par excellence für die Geisteshaltung mancher Brexiteers ist ausgerechnet der Streit um die Renovierung des Palace of Westminster, Großbritanniens weltberühmtem Parlamentsgebäude. Was die wenigsten außerhalb der Insel wissen: Das imposante Gebäude ist akut sanierungsbedürftig, ein heruntergekommener Tempel der Demokratie, der innen und außen langsam auseinanderfällt. Das Dach ist marode, die Brandgefahr akut, die Abwasseranlage kurz vor dem Zusammenbruch, viele Bereiche von Asbest durchzogen.
Die Vernünftigen schlugen derweil die Hände über den Kopf und verzweifelten über der Sturheit der Gegenseite, die für Fakten nicht mehr zugänglich schien.
Seit Jahren warnten verschieden Untersuchungskommissionen vor dem Zerfall, geschehen ist lange nichts. Der Grund: Wie auch beim Brexit sieht auf den ersten Blick alles gut aus – ein eindrucksvolles Gebäude, eine eindrucksvolle Idee. „Pomp and Circumstance“, „Rule Britannia“, wer nicht mit einstimmt ist ein Verräter. Sie kennen den Rest. Erst wenn man näher hinsieht und sich mit den Details auseinandersetzt, fällt auf, wie marode das ganze Konstrukt wirklich ist. Die Entscheidung zur Renovierung wurde durch viele Abgeordnete und Lords immer wieder verschoben, es wurde argumentiert, gestritten, hinausgezögert und die fadenscheinigsten Argumente aufgefahren, um sich nicht mit dem Problem auseinandersetzten zu müssen. Es fällt schwer, sich dabei nicht an die Verhandlungstaktik der Briten in Brüssel erinnert zu fühlen.
Denn eine Renovierung bedeutet den jahrelangen Auszug der Parlamentarier in eine Zwischenlösung – vor allem für viele ältere Parlamentarier und die von eher traditionellem Schlag absolut unvorstellbar. Es war die Angst vor dem Tod einer alten Ordnung, der Unwillen sich – selbst nur für eine kurze Zeit – von einem Gebäude zu trennen, welches, wie der Guardian schrieb, wie kein anderes für die bizarren, bisweilen irrationalen Wege der britischen Politik steht; einer Welt, die oft nicht von Vernunft bestimmt scheint, sondern von faulen Kompromissen, Eigeninteressen, Arroganz, Kurzsichtigkeit und oft auch schierer Dickköpfigkeit. Im Grunde genommen handelte es sich bei all dem Gezanke um den Ausdruck der gleichen tief verwurzelten Nostalgie, die auch den Brexit mit befeuert hat.
Ein Funken Hoffnung besteht
Lange genug leugnete man. Es sei auch möglich, den Palast im laufenden Betrieb umzubauen, solange man es nur richtig angehe, hieß es da zum Beispiel. Wer genau hinsieht, erkennt in solchen Aussagen die gleichen Argumente wieder, die auch von den Hardcore-Brexiteers gerne aufgefahren werden, wenn es um den EU-Austritt des Königreichs geht: „Wenn unser Plan nur richtig befolgt wird, wird alles gut. Glaubt nicht den Experten, es ist alles nicht so schlimm, wie es aussieht.“ Die Vernünftigen schlugen derweil die Hände über den Kopf und verzweifelten über der Sturheit der Gegenseite, die für Fakten nicht mehr zugänglich schien.
Doch es besteht zumindest ein Funken Hoffnung. Die Dachdecker mögen versagt haben, doch der englische Malertrupp, der sich später um die Sanierung der demolierten Wohnungen kümmern durfte, hat erstklassige Arbeit geleistet. Und auch beim Parlament hat sich am Ende doch noch die Vernunft durchgesetzt. Anfang Februar haben sich die Abgeordneten knapp – es stand 236 zu 220 – dafür entschieden, die Renovierung des Parlaments von Grund auf anzugehen und ab 2025 für fünf Jahre auszuziehen. Wenn die englische Einstellung zum Bauen und Reparieren also als Parabel für den Brexit und die Probleme im Land gelten kann, dann hält sie zumindest auch eine kleine, hoffnungsvolle Botschaft parat.