Wir sind im Jahr 2025. Luxemburg ist nicht mehr das Land mit den vielen Briefkastenfirmen. Ihr Verschwinden hinterlässt ein tiefes Loch im Staatshaushalt, leere Bürohäuser und ratlose Politiker. Ein Szenario.

Man konnte es kommen sehen – eigentlich. Aber im Rückblick ist man immer schlauer. Einen ersten Schock lösten die Sprünge beim Wirtschaftswachstum aus. 2017 waren es plötzlich 1,5 statt 2,3 Prozent. Zwei Jahre später stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf 15 Prozent, um 2020 um 25 Prozent einzubrechen. Der Grund: Die internationalen Konzerne leiteten ihre Gewinne nicht mehr über Luxemburg und zogen mit ihren Markenrechten um. Ihre alten Steuersparmodelle funktionierten nicht mehr.

Eigentlich war der Luxleaks-Skandal im November 2014 perfektes Marketing für Luxemburg. Wer noch nicht wusste, was hierzulande steuerlich alles möglich war, bekam nun hundertfach Einblick. Die Fachwelt war fasziniert.

Blöd war nur, dass diese Geschichte den damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker als früheren Luxemburger Premier unter Druck setzte. Er ließ seine Kommissare Margrethe Vestager und Pierre Moscovici in den Kampf gegen Steuervermeidung ziehen.

17. Dezember 2018: der entscheidende Tag

Die Dänin und der Franzose waren erfolgreich. Vestager klopfte Luxemburg wegen der Steuervorteile für Amazon, Fiat und Engie auf die Finger. Zwar ließ der Europäische Gerichtshof nicht alles gelten, aber die Botschaft kam bei den Unternehmen an, dass nicht alles legal ist, was in Luxemburg durchgeht. Moscovici trieb die Annahme neuer Regeln voran, die verhindern sollten, dass große Konzerne Steuern vermeiden – die sogenannten Atad-Richtlinien.

Den ersten Text verabschiedete das Luxemburger Parlament am 17. Dezember 2018. Zwar betonten damals alle Redner wie wichtig der Text sei, doch seine Folgen wurden verniedlicht. Manche Unternehmen würden Luxemburg verlassen, andere würden mehr Aktivitäten ins Land bringen, so der damalige Finanzminister Pierre Gramegna. Das eine würde das andere ausgleichen und sei deshalb „budgetneutral“, so der DP-Politiker.

Im Rückblick entlarvte sich diese Prognose als sehr blauäugig. Die Einnahmen sprudelten 2018 und auch noch das folgende Jahr, trotz Steuersenkungen für Unternehmen. Doch es war ein letztes Aufflammen des Strohfeuers.

Der Druck stieg ins Unermessliche

Der erste Wurf der Regeln gegen Steuervermeidung trat am 1. Januar 2019 in Kraft. Ein zweites Paket gegen sogenannte hybride Konstrukte wurde genau ein Jahr später wirksam. Diese Finanzinstrumente galten je nach Situation als Kapital oder als Schulden und wurden so zur Steuerminimierung eingesetzt. Diese Tricks waren beliebt: In einem Fünftel der Luxleaks-Rulings tauchten sie auf, ergaben Studien von Wissenschaftlern.

Die Schlupflöcher verschwanden und die Ursprungsländer der Konzerne machten Druck. US-Präsident Donald Trump brachte die amerikanischen Unternehmen mit Zuckerbrot und Peitsche dazu, die in Luxemburg und anderswo geparkten Milliarden zurück ins Land zu holen. Seine große Steuerreform sollte unbedingt vor den Wahlen 2020 zum Erfolg werden.

Auch Frankreich und Großbritannien brauchten nach „gilets jaunes“ und dem Brexit dringend Geld. Die Steuerbehörden beider Länder machten das, was sie bis zu diesem Zeitpunkt vernachlässigt hatten: Sie schauten sich die Steuerkonstrukte in Luxemburg an und forderten Nachzahlungen in Millionenhöhe von ihren Unternehmen. Die neuen internationalen Regeln gaben ihnen die nötigen Mittel in die Hand. Selbst die Luxemburger Verwaltung ging deutlich strenger vor – zumindest empfanden das die Steuerberater so.

Der große Exodus

Die Hoffnungen der Politik, dass Luxemburg trotz des Verschwindens der Steuervorteile attraktiv bleibe, wurden enttäuscht. Nach und nach zogen sich die großen Konzerne aus Luxemburg zurück. Eine Niederlassung hierzulande machte kaum Sinn, denn das Steuerrecht war in allen EU-Ländern quasi gleich. Die Dienstleistungen des Luxemburger Finanzplatzes konnten die Unternehmen auch nutzen, wenn sie von Amsterdam oder Paris aus operierten. In diesen Städten wollten die Manager halt lieber wohnen.

Man hätte es wissen müssen, denn genauso war es bei den Änderungen beim Onlinehandel abgelaufen. Ab 2015 galt nicht mehr die Luxemburger Mehrwertsteuer, sondern jene des Wohnortes des Einkäufers. Erst waren es Netflix und die Videospielanbieter Kabam und Zynga, die Luxemburg verließen, weil der einzige für sie geltende Vorteil abhandengekommen war. 2016 zog schließlich auch Itunes von Luxemburg nach Irland um. Allein das Apple-Unternehmen hinterließ ein Loch von über 40 Millionen Euro in den Steuereinnahmen – allein an Unternehmenssteuern. Amazon und Paypal blieben dem Land dagegen treu.

Das Ende der Strohmänner

Ab 2019 verließen nicht nur die großen Konzerne Luxemburg, sondern auch ein Großteil der zehntausenden kleinen Beteiligungsgesellschaften. Bereits 2017 sank deren Zahl von 46.000 auf 45.000. Und das war nur der Anfang.

Denn am 17. Dezember 2018 beschloss das Parlament ebenfalls die Schaffung eines Registers der wahren Besitzer von Gesellschaften. Damit ging ein weiterer Service des Finanzplatzes flöten. Bis zu diesem Zeitpunkt konnten vermögende Personen eine Luxemburger Briefkastenfirma besitzen, ohne dass ihr Name irgendwo auftauchte. Findige Anwälte und Unternehmensberater versteckten die Identität ihrer Kunden hinter Offshore-Gesellschaften in exotischen Steuerparadiesen, die stattdessen als Aktionär genannt wurden.

Das war eine absolut gängige Praxis. Eine Suche im „Journal officiel“ nach dem Stichwort Panama bringt 15.500 Resultate. Sucht man nach British Virgin Islands, dann umfasst die Liste knapp 19.000 Dokumente.

Zwar war das Register nicht perfekt. Niemand kontrollierte die Angaben und mit ausreichend krimineller Energie ist Luxemburg weiterhin ein interessantes Versteck. Doch für Vermögende aus den Nachbarländern war das keine Option, denn sie wollten auf der richtigen Seite des Gesetzes bleiben. Und für sie ist nun praktischer, ihre Beteiligungsgesellschaft und den Berater in Brüssel oder Paris zu haben, statt nach Luxemburg reisen zu müssen.

Leere Büros ohne Briefkästen

Die Briefkastenfirmen beschäftigten kaum Mitarbeiter, insoweit hielt sich der Schaden in Grenzen. Anders sah es jedoch bei den Beraterfirmen aus, die sich die Steuerkonstrukte ausdachten. In den ersten Jahren, nachdem die neuen Regeln in Kraft traten, brummte das Geschäft: Die Kunden waren verunsichert und brauchten Rat. Doch dieser lief immer auf die gleiche Botschaft hinaus: Entweder die Konzerne bauten ihre Präsenz massiv in Luxemburg aus oder machten eben dicht. Manche fanden noch die letzte ultimative Nische, doch viele winkten ab.

Die „Big Four“ und andere Dienstleister gerieten unter Druck. Damit die Partner weiter von hohen Boni profitieren konnten, setzten die Beraterfirmen auf Digitalisierung. Die Aufgaben, die früher die Arbeitskraft von tausenden jungen Juristen und Buchprüfer benötigten, erledigten nun Algorithmen. Die Beraterfirmen zählten noch 2018 zu den größten Arbeitgebern des Landes. Doch ab 2020 bauten sie Tausende Arbeitsplätze ab.

Ende 2018 belegten die Berater und Verwalter der Briefkastenfirmen 39 Prozent der gesamten Bürofläche. Das änderte sich schnell. Die prestigeträchtigen Zentralen der Big Four schienen auf einmal völlig überdimensioniert. Immerhin gibt es heute billige Büros für die aufblühende Start-up-Szene.

Das „Triple A“ ist futsch

Die Folgen der Abwanderung waren auch für Ratingagenturen glasklar. Anfang 2023 stufte Standard & Poor’s Luxemburg von AAA auf AA zurück. Dramatisch war das nicht: Deutschland und die Schweiz waren die einzigen Staaten, die noch mit „Triple A“ bewertet wurden.

Der Grund für den Verlust: Im letzten „normalen“ Jahr zahlten die Beteiligungsgesellschaften über ein Viertel der Körperschaftssteuern, was knapp 540 Millionen Euro entsprach. Dazu kamen 180 Millionen Euro Gewerbesteuern und 360 Millionen Euro an Vermögensteuern. Diese jährlichen Einnahmen von einer Milliarde standen auf einmal zur Disposition. Niemand wusste, wie es im folgenden Jahr aussehen würde. Dazu kamen die Verluste durch die verschwundenen Arbeitsplätze.

Erst wollte Ex-Premier Bettel das dritte A unbedingt retten – Nation Branding oblige. Als ihm Ex-Finanzminister Gramegna erklärte, wie krass die Koalition die Steuer dazu erhöhen müsste, war die Diskussion aber schnell vorbei. Bis zur EU-Grenze von 60 Prozent Staatsschuld gab es schließlich noch erheblichen Spielraum. Oder wie es Bettel in seinem „Etat de la Nation“ 2020 formulierte: „Wenn es dem Land schlecht geht, dann soll es den Menschen trotzdem gut gehen.“