Mit den ersten Covid-19-Infektionen begannen sich die europäischen Staaten massiv mit medizinischem Material einzudecken. Journalisten aus 37 Ländern – darunter Reporter.lu – trugen Daten über die rund 20 Milliarden Euro zusammen, die seit Beginn der Pandemie ausgegeben wurden.
Als die europäischen Länder Anfang des Jahres in den Lockdown gingen, gab es ein frühes, offensichtliches Opfer: die Transparenz. Zahlreiche Länder suspendierten ihre Regeln für die Vergabe öffentlicher Aufträge, die in normalen Zeiten für Transparenz sorgen und Korruption verhindern. Ausgaben in Milliardenhöhe blieben so der Öffentlichkeit verborgen.
Eine Gruppe investigativer Journalisten unter der Leitung des Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP) beschloss, herauszufinden, was mit diesem Geld passierte. Medienpartner aus 37 Ländern – darunter Reporter.lu – sammelten Daten von über 37.000 Ausschreibungen, die im Kampf gegen das Coronavirus gemacht wurden. Über 20 Milliarden Euro wurden zwischen Februar und Oktober durch diese Aufträge ausgegeben. Dabei ging es um Masken, Beatmungsgeräte, Tests und Medikamente.
Die Ergebnisse der Recherche bieten völlig neue Einblicke. Regierungen kauften Atemschutzmasken für Stückpreise, die von 2 bis 37 Euro reichten. Die Pandemie sorgte auch für einen Boom des Medikaments Hydroxychloroquin, das manche für ein Wundermittel gegen Covid-19 hielten. Die von den Journalisten zusammengetragenen Daten zeigen, dass die großen Aufträge für das Medikament sich Anfang des Jahres verfünfzehnfachten.
Die Daten sind längst nicht vollständig, aber sie ermöglichen Einblicke, wie Europas Regierungen Milliarden Euro ausgaben und manches schief ging.
Schnäppchen und schwarze Löcher
Die Daten stammen von dem EU-Portal für öffentliche Ausschreibungen „Tenders Electronic Daily“ (TED) sowie von nationalen und regionalen Regierungen. Doch zwischen den Staaten, die in den Datenbanken auftauchen, gab es enorme Unterschiede bei der Offenheit im Umgang mit den Informationen.
Portugal machte 14.000 Aufträge öffentlich, Russland steht an zweiter Stelle mit 12.000 Aufträgen. Portugal veröffentlichte alle Verträge und eine Übersicht aller Käufe im Zusammenhang mit Covid-19 online.
Luxemburg veröffentlichte die vom Krisenstab getätigten Käufe und Aufträge auf der EU-Plattform TED. Zusammen sind die 46 Verträge knapp 113 Millionen Euro wert. Allerdings sind diese Angaben nicht komplett. Es fehlen etwa Teile des „Large Scale Testing“. Auch bei gemeinsamen Bestellungen der EU von Masken fehlen Angaben, wie viel Geld Luxemburg gezahlt hat.
Andere Länder waren dagegen regelrechte „schwarze Löcher“. Belgien, die Niederlande und Dänemark lehnten alle Anfragen von Journalisten ab. Die Begründung: Die Geheimhaltung sei nötig, um laufende Verhandlungen nicht zu stören. Norwegen gab die Namen der Unternehmen heraus, die Aufträge erhielten, verschwieg aber die Preise.
Große Aufträge, wenig Konkurrenz
Unter den Aufträgen in Gesamthöhe von fast 21 Milliarden Euro befinden sich mehrere sehr große Käufe. Fast die Hälfte der Summe geht auf Aufträge aus Großbritannien zurück. Deutschland kaufte Material für zwei Milliarden Euro. In Spanien kostete ein einzelner Auftrag 181 Millionen Euro.
Die Daten zeigen, dass die überwältigende Mehrheit der Aufträge direkt vergeben wurde – ohne Ausschreibung. Dieses europaweite Ergebnis spiegelt sich auch in den Luxemburger Aufträgen. Das „Haut Commissariat pour la Protection nationale“ (HCPN), das die Käufe hierzulande koordinierte, begründete diese Direktvergabe mit der Dringlichkeit, die nötige Ausrüstung gegen die Pandemie zu beschaffen.
Für Kritik der CSV sorgte dieses Vorgehen bereits bei der Vergabe des Auftrags für die erste Phase des „Large Scale Testing“ an „Laboratoires Réunis“ und den Kauf der nötigen Tests bei „Fast Track Diagnostics“. Mit 26 Millionen Euro war der Auftrag für die erste Phase des „Large Scale Testing“ an das Privatlabor auch der bisher größte.
Durch Transparenz werden Fehler öffentlich und eine politische Debatte findet statt.“Michiel van Hulten, „Transparency International“
Die Liste der Unternehmen, die Aufträge erhielten, ist in ganz Europa sehr durchmischt. Sie reicht von internationalen Konzernen wie Philips und GE zu völlig unbekannten Kleinunternehmen.
Bei der Einfuhr von Medikamenten gehörten indes vor allem die großen Pharmakonzerne zu den Nutznießern. Rund drei Viertel aller Aufträge gingen an vier Konzerne: Roche, Sanofi, Novartis und Allergan. Zwischen Februar und Juli 2020 importierten die 27 EU-Staaten fünf Prozent mehr Arzneimittel als im gleichen Zeitraum des Vorjahres – ein Anstieg im Wert von rund einer Milliarde Euro. Für das umstrittene Anti-Malaria-Mittel Hydroxychloroquin schlossen die EU-Staaten auf dem Höhepunkt der Pandemie allein 31 große Bestellungen ab.
Vom goldenen Panda bis zur „Soparfi“
Luxemburgs Regierung kaufte ähnlich wie andere EU-Staaten bei Großen wie Philips und GE, aber auch bei kleineren, weniger bekannten Dienstleistern ein. Für 14 Millionen Euro erwarb sie Masken, Schutzausrüstung, Thermometer und Beatmungsgeräte bei der Firma „Golden Panda“ aus Hong Kong. Was die Tochtergesellschaft der „Yide Cloud Group“ für diesen Auftrag qualifizierte, ist unklar. Anfang Juni bestellte die Regierung zehn Millionen Handschuhe bei der „Soparfi“ DSP Invest. Die Lieferung soll nun Ende Oktober oder Anfang November erfolgen, teilte das HCPN auf Nachfrage von Reporter.lu mit.
Die Käufe erfolgten informell. Reporter.lu erhielt im Rahmen des Gesetzes zu einer transparenten und offenen Verwaltung Einsicht in die Dokumente mehrerer Aufträge. Meist legte das HCPN nur eine unterschriebene Offerte vor, Verträge wurden nicht ausgefertigt. Bei der Bestellung bei „Golden Panda“ fehlte zudem jede Angabe zum Hersteller der FFP2-Masken.
Diese Sorglosigkeit rächte sich: Die „Santé“ musste im August 270.000 mangelhafte FFP2-Masken zurückrufen. Sie waren unter anderem an Zahnärzte verteilt worden.
Atemberaubende Geschäfte mit Masken
Drei Millionen Masken des Typs FFP2 wurden nach Luxemburg eingeflogen, betonte Premier Xavier Bettel in seiner Rede zur Lage der Nation. Angesichts der steigenden Infektionszahlen hat die Regierung im September eine weitere Bestellung von 1,2 Millionen FFP2-Masken lanciert. Diese Woche falle voraussichtlich die Entscheidung zur Auftragsvergabe. Die vorliegenden Angebote würden die gewünschte Quantität mehr oder weniger erreichen, heißt es vom HCPN auf Nachfrage.
Nicht nur in Luxemburg waren die Atemschutzmasken die wichtigste Ausrüstung. Die Recherche ergab, dass die europäischen Länder 1,8 Milliarden Euro für Masken des Typs FFP2 ausgaben.
Die Preise schwanken enorm: Die Hälfte kostete im Schnitt weniger als 3,27 Euro pro Stück. Ein Viertel der Masken kostete weniger als 2,20 Euro. Extreme Beispiele waren die Ukraine und Tschechien, die 37 Euro zahlten – pro Maske!
Luxemburg zahlte „Golden Panda“ 2,20 US-Dollar pro FFP2-Maske. Für andere Bestellungen liegen keine Preisangaben vor. Allerdings zahlte die Regierung der Frachtgesellschaft Cargolux zehn Millionen Euro für den Transport von China nach Luxemburg.
Nachholbedarf bei der Transparenz
In der Summe geht es um viel Geld. Finanzminister Pierre Gramegna sprach in seiner Budgetrede von 160 Millionen Euro, die der Staat bisher für Material und Dienstleistungen im Kampf gegen Covid-19 ausgegeben habe. Darin inbegriffen sind die erste und zweite Phase des „Large Scale Testing“, wie das Finanzministerium auf Nachfrage bestätigte. 80 Millionen Euro hält die Regierung bereit, falls weiteres Material gebraucht wird.
90 Millionen chirurgische Masken, 2,5 Millionen Schutzanzüge, 152 Beatmungsgeräte zählte der Premierminister in seiner Rede zur Lage der Nation auf. Eine detaillierte Liste der Aufträge veröffentlichte die Regierung nicht. Die Transparenz ist in Luxemburg also erst in der Entwicklungsphase.
Dabei liegt ein offener Umgang mit den öffentlichen Aufträgen nicht nur im Interesse der Steuerzahler, sondern auch der Regierungen selbst. So sieht es jedenfalls der Direktor des EU-Büros von „Transparency International“, Michiel van Hulten. „Durch Transparenz werden Fehler öffentlich und eine politische Debatte findet statt“, so der frühere niederländische Politiker (PvdA) im Gespräch mit der Webseite „Follow The Money“. Aus einer solchen Debatte könne man wichtige Lehren ziehen und ähnliche Fehler oder Versäumnisse in Zukunft vermeiden.
Auch der Transparenz-Aktivist räumt ein, dass es in der Coronavirus-Pandemie einen hohen Handlungsdruck auf die Regierungen der Welt gab. Dass man die Regeln zur öffentlichen Ausschreibung außer Kraft setzte, sei nachvollziehbar, aber die Pandemie rechtfertigt für Michiel van Hulten eben nicht alles. „Die Gesundheit der Bürger ist überaus wichtig. In einer Krise kann man nicht sechs Wochen warten, bis man handelt. Im Nachhinein muss man aber Rechenschaft ablegen.“
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text basiert auf einer gemeinsamen Recherche unter Leitung des Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP). Teile des Artikels basieren auf einer Übersetzung aus dem Englischen.
An der gemeinsamen Recherche nahmen Journalisten aus 37 Ländern teil: HETQ (Armenien), DeTijd (Belgien), Bivol (Bulgarien), DR (Dänemark), BR Data (Deutschland), YLE (Finnland), Finance Uncovered (Großbritannien), The Times (Großbritannien), The Irish Times (Irland), IRPI (Italien), Ostro (Kroatien und Slovenien), Re: Baltica (Lettland), Reporter.lu (Luxemburg), Times of Malta (Malta), Follow the Money (Niederlande), NRK (Norwegen), IRL Macedonia (Nordmazedonien), profil (Österreich), Fundacija Reporterow (Polen), Publico (Portugal), RISE Romania (Rumänien), KRIK, (Serbien), Investigace (Tschechien), Atlatszo (Ungarn) sowie Sylke Gruhnwald (freelance, Schweiz), Ola Westerberg (freelance, Schweden), Michele Catanzaro (freelance, Spanien) und Staffan Dahllöf (freelance, Dänemark).
Ein besonderer Dank geht an Transparency International und deren lokale Unterorganisationen in ganz Europa sowie OpenOpps.
Lesen Sie mehr zum Thema


