Krisen treffen ärmere Haushalte besonders hart. Die Regierung erhöht manche Sozialleistungen. Das wahre Problem aber ist struktureller Natur: Die Zuständigkeiten sind oft kompliziert und die Wartezeiten lang. Doch Blau-Rot-Grün geht notwendige Reformen nicht an.

Der Sozialstaat in Luxemburg kennt zwei Erzählungen. Die offizielle Version skizzierte Premierminister Xavier Bettel (DP) in seiner Rede zur Lage der Nation. „Es war diese Regierung, die in den letzten Jahren massiv in neue Sozialleistungen investiert hat. Ganze 47 Prozent des Staatshaushalts fließen in soziale Ausgaben. Darauf können wir stolz sein“, sagte der Premier. Was genau in diesen 47 Prozent enthalten ist, ließ er allerdings bewusst offen.

Es ist eine Sichtweise, die auch von anderen DP-Mitgliedern nur zu gern aufgegriffen wird. So bemühte der liberale Fraktionschef Gilles Baum jüngst in der „RTL“-Sendung „Kloertext“ einen Superlativ: „Es ist noch nie eine solch soziale Politik gemacht worden wie unter dieser Regierung in den letzten neun Jahren.“ Die Behauptung ist im Kern natürlich weder zu bestätigen noch zu widerlegen. Richtig ist, dass diese Regierung verschiedene staatliche Zuschüsse für Geringverdiener erhöhte – zum Teil mehrmals. Gleichzeitig hat sie aber Reformen verschleppt, welche die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates verbessern könnten.

Bürokratie und lange Wartezeiten

Zur Illustration ihrer vermeintlich sozialsten Politik, die jemals in Luxemburg gemacht wurde, verweist die Regierung gerne auf die wiederholte Erhöhung der Sozialhilfe Revis oder die Verlängerungen des Energie- und des Wohngelds. Die Botschaft ist unmissverständlich: Wir kümmern uns. Den meisten Menschen im Land geht es gut, und den anderen wird geholfen.

So viel zur offiziellen Version. Denn aus Gesprächen mit Sozialarbeitern, Wohlfahrtsverbänden und Betroffenen ergibt sich oft ein anderes Bild. Eines, das weit weniger rosig ist als jenes der Regierung. Sie berichten von einem System, das geprägt ist von einer zähen Bürokratie und unnötig komplizierten Zuständigkeiten. Luxemburgs Sozialstaat stelle zwar immer neue Hilfen bereit, gleichzeitig müssten Betroffene jedoch oft Monate auf diese Unterstützung warten.

Beste Beispiele sind das Energiegeld und das Wohngeld. Bei beiden Hilfen kommt es in der Praxis oft zu langen Wartezeiten, bis die Hilfen tatsächlich ausbezahlt sind. So erklärte etwa Familienministerin Corinne Cahen (DP) jüngst bei einer Fragestunde im Parlament, dass es bei der Auszahlung des Energiegeldes Anfang des Jahres zu einer Wartezeit von bis zu sechs Monaten gekommen sei. Aktuell betrage die Wartezeit ein bis zwei Monate. Anfang des Jahres würden eben besonders viele Anträge gestellt, so die lapidare Begründung der Ministerin einige Monate zuvor. Ein wirkliches Problem scheint das für sie nicht zu sein.

Ein Punkt, den die Ministerin dabei unterschlägt: Anfang des Jahres werden nicht rein zufällig besonders viele Anträge gestellt. Denn wer Anrecht auf das Energiegeld oder die Teuerungszulage hat, ist oft auch Mieter. Die Nebenkostenabrechnung erfolgt dabei oft zum Ende des Jahres, gezahlt wird Anfang des nächsten. Dass zu diesem Zeitpunkt besonders viele Anträge auf die Behörden zukommen, ist also keineswegs ein Zufall.

In Erwartung des Krisenwinters

Was in normalen Zeit bereits problematisch wäre, könnte vor diesem Krisenwinter verheerend werden. Denn bereits jetzt sind die Vorzeichen alarmierend. So geht aus dem jüngsten Bericht zur sozialen Kohäsion des Statec hervor, dass die Zahl derer, die unter die Armutsschwelle fallen, deutlich angestiegen ist. Die Statistikbehörde geht davon aus, dass fast 20 Prozent der Haushalte in Luxemburg von Armut bedroht sind. Hinzu kommt, dass die Inflation finanzschwache Haushalte stärker trifft als finanzstarke. Auch darin ist der Statec-Bericht unmissverständlich.

Die Antwort der Regierung auf diese soziale Krise ist bestenfalls ein Weiter-so. Zwar stellte Premierminister Xavier Bettel in seiner Rede zur Lage der Nation in Aussicht, dass der Personalbestand der Sozialämter um 50 Prozent erhöht werden soll. Wann das konkret geschieht und wie die zuständigen Gemeinden das dafür nötige Personal finden sollen, bleibt offen.

Ebenso offen lässt die Regierung die Frage, wieso die Sozialämter eigentlich dermaßen überlastet sind. Denn der Personalmangel allein ist nicht ausschlaggebend. Wer nämlich mit Sozialarbeitern über ihre Arbeit spricht, der erhält oft die gleiche Antwort: Die Gründe für den Druck, dem die Ämter ausgesetzt sind, seien nicht unbedingt Überlastung und Personalmangel, sondern vielmehr die komplizierten Prozeduren und Zuständigkeiten.

Komplizierte Zuständigkeiten

Beispiel Revis. In der Praxis wird die Hilfe über das Sozialamt einer Gemeinde beantragt. Allerdings entscheidet der „Fonds national de solidarité“ (FNS) darüber, ob die Hilfe bewilligt wird. Dafür nötig: Kontoauszüge, Vermögensauskünfte, eine Wohnsitzbescheinigung und Weiteres. Wer auf Hilfe vom Staat angewiesen ist, muss sich finanziell nackt machen. Für Sozialhilfeempfänger gilt das Bankgeheimnis nur bedingt.

Vor vier Jahren wurde das „Revenu d’inclusion sociale“ (Revis) eingeführt. Die von Familienministerin Corinne Cahen in Aussicht gestellte Zwischenbilanz der Reform lässt noch auf sich warten. (Foto: Mike Zenari)

Wird die Hilfe schließlich bewilligt, ändert sich die Zuständigkeit. Begleitet werden die Revis-Empfänger dann entweder von der Arbeitsagentur ADEM, die dem Arbeitsministerium untersteht, oder dem „Office national d’inclusion sociale“ (ONIS), das dem Familienministerium untersteht. Kommt es allerdings zu Schwierigkeiten, greift wieder der FNS ein. Denn der ist zuständig für Sanktionen beim Revis und damit für etwaige Kürzungen der Sozialleistungen.

Zwischen all diesen Zuständigkeiten müssen die Sozialämter vermitteln. Denn die Sozialarbeiter bleiben oft der erste Ansprechpartner für die Betroffenen. Dass das in der Praxis zu Problemen führt, stellte bereits 2019 eine Studie zu den Sozialämtern der Universität Luxemburg fest. Ausdrücklich kritisierte die Studie auch die komplizierten Zuständigkeiten bei den staatlichen Hilfen. Passiert ist seitdem wenig.

Blau-Rot-Grün spielt auf Zeit

Dass sich daran bis zu den Wahlen 2023 grundlegend etwas ändert, ist unwahrscheinlich. Dabei sollte die Revis-Reform eigentlich dieses Jahr überprüft werden. Darauf hatte sich das Parlament bei der Abstimmung der Reform 2018 formal geeinigt. Daraufhin erhielt das „Luxembourg Institute of Socio-Economic Research“ (Liser) den Auftrag, die neue Sozialhilfe kritisch zu analysieren. Stichdatum für die Analyse ist November 2022. Doch ob die Studie auch zeitnah veröffentlicht wird, ist fraglich.

Wie mehrere an der Studie beteiligte Forscher auf Nachfrage von Reporter.lu erklären, liegen die Urheberrechte der Studie nämlich beim Familienministerium. Deshalb könnten sie bis auf Weiteres nicht öffentlich zum Inhalt der Studie Stellung nehmen. Im Klartext: Eine fundierte und kritische Debatte über das Revis-System hängt maßgeblich vom Willen des Ministeriums ab, diese Diskussion auch zuzulassen.

Wann das sein könnte, ließ Familienministerin Corinne Cahen Ende August in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage von Djuna Bernard (Déi Gréng) durchblicken. So stellte die Ministerin in Aussicht, dass man dem zuständigen parlamentarischen Familienausschuss die Ergebnisse der Analyse „gegen Ende des ersten Semesters 2023“ präsentieren wolle. Sprich: Vor dem Frühsommer ist nicht mit Ergebnissen zu rechnen. Ob es so kurz vor den Nationalwahlen überhaupt noch zu Anpassungen kommt, ist indes stark zu bezweifeln. Wahrscheinlicher ist, dass das Thema bis dahin im Getöse des Vorwahlkampfs untergeht.

Debatte ohne belastbare Zahlen

Dabei sind die Fragen, die sich nach der Revis-Reform von 2018 stellen, ebenso dringlich wie offensichtlich. Etwa jene, wie viele Menschen keine Hilfe beantragen, obwohl sie ihnen eigentlich zustehen würde, und was die Gründe dafür sind. Die letzte Analyse zu dieser Fragestellung stammt aus dem Jahr 2010 und beinhaltete Statistiken aus dem Jahr 2007.

Das Ergebnis damals: 65 Prozent der Haushalte, die eigentlich ein Recht auf Unterstützung hätten, stellen keinen Antrag. Entweder weil sie Angst vor Stigmatisierung haben oder weil sie Angst vor der Rückzahlung und den Folgen für das eigene Vermögen haben, sollten sie Sozialhilfe beantragen. Ob sich daran bis heute etwas geändert hat, lässt sich mangels belastbarer Zahlen schlicht nicht sagen.

Eine fundierte und kritische Debatte über das Revis-System hängt maßgeblich vom Willen des Ministeriums ab, diese Diskussion auch zuzulassen.“

Auch die Sanktionspolitik und die Finanzierung des Revis an sich bedürfen einer breiten gesellschaftlichen Debatte. Denn eigentlich handelt es sich bei der Sozialhilfe oft eher um ein Sozialdarlehen. Empfänger verschulden sich quasi bei der Allgemeinheit. Wer Eigenheimbesitzer ist und plötzlich auf Revis angewiesen ist, der muss etwa eine Hypothek auf sein Haus akzeptieren.

Kürzungen und Erstattungen

Der Jahresbericht des FNS hält fest, dass allein 2021 mehr als 650 neue Hypotheken ausgesprochen wurden. Will heißen: Wenn etwa die eigenen Kinder das Haus erben, müssen zunächst die Forderungen des FNS bedient werden. In der Praxis führt dies nicht selten dazu, dass Kinder das Erbe ablehnen müssen.

Wer selbst erbt, muss auch zuerst seine Schulden beim Staat bedienen. Der Jahresbericht listet die daraus resultierenden Einnahmen unter der Rubrik „Revenus à meilleure fortune“. 2021 machten diese Zahlungen rund 17 Millionen Euro und damit fast zehn Prozent des Gesamtbudgets des FNS aus.

Genauso streng wie bei der Rückerstattung ist der FNS augenscheinlich bei Kürzungen und Streichungen. 2021 wurden insgesamt 3.614 neue Anträge für Revis gestellt. Im gleichen Jahr kam es in 4.775 Fällen zu einer Kürzung der Hilfe und 1.523 Mal wurde die Unterstützung abgelehnt. Doch ein Moratorium bei Revis-Kürzungen oder eine Aussetzung der Rückzahlungen wird aktuell nicht einmal diskutiert.

Fragwürdige Initiativen

Genauso vergebens sucht man eine kritische Prüfung der sogenannten Aktivierungsmaßnahmen. An diesen müssen Leistungsempfänger teilnehmen, um ein Anrecht auf den vollen Revis-Satz zu haben. Dazu führen sie Arbeiten für das Gemeinwohl durch: Sie schneiden Hecken, bieten Haushaltshilfe an oder fahren für Busrufdienste. Oft werden sie dabei von gemeindenahen „Centres d’initiative et de gestion régionale“ (CIGR) engagiert.

Doch auch zahlreiche Skandale und vermeintliche Missstände in der Vergangenheit haben bisher nicht zu einer generellen Debatte über Sinn und Zweck der rund 30 Initiativen geführt, die über eine Konvention mit dem Arbeitsministerium verfügen.

Sozialarbeiter und Wohlfahrtsverbände berichten von einem System, das geprägt ist von einer zähen Bürokratie und unnötig komplizierten Zuständigkeiten. (Foto: Mike Zenari)

Ebenso unbeantwortet bleibt bislang die Frage, wie effektiv diese Initiativen eigentlich sind. So sucht man etwa Zahlen, wie viele Personen nach einer Aktivierungsmaßnahme wieder in den ersten Arbeitsmarkt finden, bisher vergeblich. Zwar führt das Arbeitsministerium punktuell Audits bei den jeweiligen Diensten durch, doch eine übergeordnete Analyse in der Öffentlichkeit fehlt bisher noch immer.

Zudem steht die Frage, ob die Dienstleistungen der jeweiligen Initiativen in Konkurrenz zu regulären Betrieben stehen, weiterhin ungeklärt im Raum. Ein Kritikpunkt der bereits bei der Vorstellung der Revis-Reform vorgebracht wurde, dies unter anderem vom OGBL.

Inventar der Sozialleistungen

Zumindest bei den konkreten Zahlen zu den verschiedenen Hilfen scheint mindestens eine Regierungspartei um Aufklärung bemüht. So stellten LSAP-Fraktionschef Yves Cruchten und der LSAP-Abgeordnete Mars Di Bartolomeo gleich zehn parlamentarische Anfragen zum Thema an nur einem Tag.

Die Fragestellung war dabei immer die gleiche, gerichtet an jeweils wechselnde Adressaten: Welche soziale Hilfen gibt es, wie viele Anträge werden gestellt und warum werden Hilfen abgelehnt? Adressiert war der Fragenkatalog neben Umweltministerin Joëlle Welfring (Déi Gréng), Wohnungsbauminister Henri Kox (Déi Gréng) und Arbeitsminister Georges Engel (LSAP) auch an Familienministerin Corinne Cahen. Bis Redaktionsschluss war noch keine der Fragen beantwortet. Zu hoffen bleibt, dass die Antworten schneller vorliegen werden, als verschiedene soziale Hilfen, nachdem sie beantragt worden sind.


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