Die Debatte über die „Lage der Nation“ war ein Vorgeschmack auf das anstehende Superwahljahr. Der Wille der Regierung zur politischen Gestaltung nimmt ab. Die Strategien der einzelnen Parteien werden dagegen klarer erkennbar. Eine Analyse.
Ist etwa schon Wahlkampf? Wer die Rede des Premiers und die darauf folgende Debatte zur „Lage der Nation“ verfolgte, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in Luxemburg bald Wahlen anstehen. Noch mehr als sonst versuchten die unterschiedlichen Redner, sich und ihre politischen Farben in Szene zu setzen. Den Regierungsparteien ging es nicht mehr darum, große neue Initiativen anzukündigen. Dafür wird die Zeit in dieser Wahlperiode auch allmählich knapp.
Fest steht: Am 11. Juni 2023 finden Kommunalwahlen statt. Wenn alles nach Plan läuft, sollen dann im Oktober 2023 die Parlamentswahlen folgen – das genaue Datum steht noch nicht fest. Doch auch wenn der Stichtag noch weit entfernt scheint: Die Parteien bringen sich langsam, aber sicher in Stellung. Oder wie es der frühere Wahlkampfberater von Helmut Kohl, Coordt von Mannstein, einmal ausdrückte: „Wahlkampf ist eigentlich immer.“
Der Premier, und nichts als der Premier
Die jüngste Debatte im Parlament lässt dabei schon erahnen, unter welchen Vorzeichen die Parteien in das anstehende Wahljahr starten werden. Da ist etwa der Premier, dessen Führungsanspruch in der eigenen Partei, und bis auf Weiteres auch in der Koalition, quasi unangefochten ist. Xavier Bettel will offenbar Regierungschef bleiben. Er sei „voll motiviert, voller Energie und Lust“, sein Amt zu verteidigen, sagte er vergangene Woche im Interview mit „Radio 100,7“.
Xavier Bettels Rede zur Lage der Nation war eine klare Ansage, die nicht zufällig den Titel „Verantwortung übernehmen“ trug. Seine Redenschreiber wollten offensichtlich die Botschaft vermitteln: Hier spricht ein Premierminister, der das Land durch ungeahnte Krisen führte – und der noch lange nicht fertig ist. „Wir nehmen unsere Verantwortung wahr, auch in diesen schwierigen Zeiten. Zum Wohle des Landes und seiner Bürger. Für heute und für morgen“, so Bettel in seiner Rede. Es sind Sätze, die die DP schon heute auf ihre Wahlplakate drucken könnte.

Man muss auch kein Prophet sein, um zu wissen, dass die Premierpartei im kommenden Wahljahr ebendiese Karte des „Krisenmanager-in-chief“ ausspielen wird. „Unser Premier hat das Land gut durch die Krisen geführt“, lautet die naheliegende liberale Wahlkampferzählung. Die DP wird vermutlich versuchen, jegliche Nuancen und Kontroversen der von ihr verantworteten Krisenpolitik vergessen zu machen. Dazu gehört auch, dass die Liberalen spätestens seit der Bewältigung von Pandemie und Energiekrise ihren freiheitlichen Markenkern aufgegeben haben. An seine Stelle rückte ein diffuser Sozialliberalismus, der mittlerweile alle Parteien der politischen Mitte mehr oder weniger prägt.
Doch aus wahlstrategischer Sicht ist das ziemlich zweitrangig. Im Wahlkampf, dieser „rituellen Inszenierung“ der parlamentarischen Demokratie, komme es seit jeher weniger auf überzeugende Inhalte als auf „eine gute, optimistische Grundstimmung“ an, schrieb einst der deutsche Politologe Andreas Dörner in seinem Werk „Wahl-Kämpfe“. Auf die Partei eines Regierungschefs, der sich der Wiederwahl stellt, trifft das wohl noch mehr zu. Die Rede und die schon jetzt zunehmenden Werbekampagnen der DP deuten jedenfalls darauf hin, dass auch die Berater des Premiers die Klassiker der politischen PR- und Wahlkampfforschung gelesen haben.
LSAP: Personell und inhaltlich ungeklärt
Verkehrte Vorzeichen dagegen beim Koalitionspartner LSAP: Während die DP schon eine Kampagne führt, die nahezu komplett auf ihren Spitzenkandidaten zugeschnitten ist, ist die Führungsfrage bei den Sozialisten noch immer offen. Zwar steigt der Erwartungsdruck, dass Vize-Premierministerin Paulette Lenert diese Rolle übernehmen soll. Doch bisher hadert die Gesundheitsministerin noch immer mit diesem Schicksal. In ihrem Ressort häufen sich zudem die Kontroversen, was auch innerhalb der LSAP die Erkenntnis reifen lassen dürfte, dass der „Paulette-Effekt“ in den Umfragen nicht ewig anhalten wird.
Unabhängig von der Frage der Spitzenkandidatur hat in der LSAP zwar ein allmählicher Generationenwechsel eingesetzt. Doch die kommenden Wahlen könnten noch zu früh kommen, um diesen Wandel zu vollenden. Ungeklärt ist etwa, ob Jean Asselborn – nach dann fast zwei Jahrzehnten im Amt – es im kommenden Oktober noch einmal wissen will. Der 73-jährige Außenminister macht bisher jedenfalls keine Anstalten, seinen Platz am Kabinettstisch freiwillig für jüngere Parteikollegen zu räumen. Wahlstrategisch wird es sich die LSAP auch zweimal überlegen, ob sie auf den Asselborn-Bonus an den Wahlurnen verzichten will.
Anders als die DP ist die LSAP eher eine Programmpartei als ein Wahlverein, der sich hinter einer starken Führungspersönlichkeit versammelt.“
Die aktuelle erste Reihe der Sozialisten steht zudem nicht im Verdacht, der Partei inhaltlich ihren Stempel aufzudrücken. Diese Rolle spielt vor allem Dan Kersch. Nach seinem freiwilligen Rückzug aus der Regierung hat der Ex-Vizepremier sich offenbar darauf spezialisiert, den ideologischen Markenkern der Sozialisten wieder in Erinnerung zu rufen. Dass sein Aktivismus mitunter auf Kosten des Koalitionsfriedens geht, nimmt der Abgeordnete dabei freilich in Kauf.
Was Kersch wohl nur zu gut weiß: Anders als die DP ist die LSAP eher eine Programmpartei als ein Wahlverein, der sich hinter einer starken Führungspersönlichkeit versammelt. Die Parteistrategen setzen traditionell auch stärker auf die Mobilisierung des eigenen Wählerpotenzials als auf eine bewusste Öffnung für andere Wählerschichten. Zum Selbstverständnis der LSAP gehört auch, dass sie im Zweifel für sich selbst kämpft und nicht für eine bestimmte Koalitionspräferenz. Oder wie es Ex-Fraktionschef Alex Bodry vor den vergangenen Wahlen im Interview mit Reporter.lu ausdrückte: „Die DP ist uns programmatisch prinzipiell nicht näher als die CSV.“

Je näher die Wahlen rücken, desto mehr müssen die Sozialisten aber einige grundsätzliche Fragen klären. Vor allem: Wer führt die Partei in die Wahlen (und wer soll sie nach den Wahlen führen)? Und warum konnte sie ihre Ideale in den vergangenen 18 Jahren an der Macht nicht bereits umsetzen? Die Forderungen von mehr Steuergerechtigkeit sind für die LSAP nämlich ein zweischneidiges Schwert. Sie könnten zwar die eigene Basis mobilisieren. Doch viele Wähler könnten sie auch als Profilierungsmanöver durchschauen, das sich – wie in der Vergangenheit – nicht unbedingt in der Realpolitik der Partei widerspiegeln wird.
Déi Gréng: Rundum erneuerte Realo-Partei
Personell ist die Situation bei den Grünen mit jener der LSAP vergleichbar. Mit einem wesentlichen Unterschied: Déi Gréng wurden im Laufe der Legislaturperiode zur Erneuerung gezwungen. Sie verfügen über keine starken Führungsfiguren, die im personalisierten Luxemburger Wahlrecht mit den Bettels oder Asselborns des Landes mithalten könnten. François Bausch gilt zwar nach wie vor als mächtiger Impulsgeber der Regierungspartei. Der Vizepremier hat jedoch bereits angekündigt, dass er nach den Wahlen nicht nochmal ein Ministeramt annehmen wolle.
Dabei gäbe es eine mögliche, natürliche Nachfolgerin als Spitzenkraft in der Partei: Sam Tanson. Doch die Justiz- und Kulturministerin hält sich bisher auffallend aus grundsätzlichen politischen Debatten heraus. Das mag an ihren Ressorts liegen und könnte sich in den kommenden Monaten noch ändern. Viele in der Partei sind jedenfalls der Meinung, dass die 45-Jährige als neues Sprachrohr der Grünen prädestiniert wäre. Bisher wird Tanson jedoch nicht – weder von ihren Unterstützern noch von sich selbst – als kommende Spitzenfrau in Stellung gebracht.
Die Unzulänglichkeit der Opposition ist immer noch der beste Garant für das Fortbestehen dieser Koalition.“
Doch auch über die Kabinettsriege hinaus mangelt es bei Déi Gréng nicht an Personal, das sich zu Höherem berufen fühlt. Djuna Bernard, François Benoy und Stéphanie Empain dürften jedenfalls im Superwahljahr endgültig in die erste Reihe der Grünen vorstoßen. Sie sind vergleichsweise jung und unverbraucht, aber mittlerweile auch erfahren genug, um in der Post-Bausch-Ära eine wichtige Rolle zu spielen. Die neue Parteigeneration hat das Realo-Image der Luxemburger Grünen zwar längst verinnerlicht. Sie schreckt aber – anders als manche Vorgänger – nicht davor zurück, abweichende Meinungen zur Regierungspolitik öffentlich zu formulieren.
Die Wahlstrategie der Grünen dürfte deshalb verstärkt auf die neuen Köpfe der Partei setzen. Die größten Herausforderungen sind bei den Grünen aber programmatischer Natur. Von konservativen Wählern werden sie schon jetzt für ihre vermeintlich ideologisch-radikale Umwelt- und Klimapolitik gebrandmarkt. In den Augen vieler Stammwähler geht die grüne Agenda aber nicht weit genug – ein Eindruck, der im Lichte von Tankrabatt und pauschaler Energiepreisbremse noch verstärkt werden könnte. Inwiefern die Partei ihre inhaltlichen Widersprüche überwinden kann, dürfte auch ihre Wahlchancen maßgeblich beeinflussen.
Die strukturellen Schwächen der Opposition
Am Ende dürfte es bei allen drei Regierungsparteien aber darauf ankommen, inwiefern sie im Wahlkampf auf die besagte „optimistische Grundstimmung“ aufbauen oder diese zumindest glaubhaft herbeireden können. Ein unbekannter Faktor dieser Strategie ist jedoch die große Unsicherheit, wie sich die aktuellen Krisen bis zum elektoralen Stichdatum entwickeln werden. Mit etwas Glück wird im kommenden Herbst niemand mehr über das Coronavirus und steigende Energiepreise sprechen. Dafür gibt es aber keine Gewissheit.
Ein weiteres Element ist natürlich die Konkurrenzfähigkeit anderer Parteien. Grundsätzlich gilt in der Demokratie zwar die Regel: Selten werden neue Regierungen gewählt, meistens werden alte Regierungen abgewählt. Und doch wirkt sich die Attraktivität der politischen Wettbewerber natürlich auf die Erfolgschancen bei einer demokratischen Wahl aus. Oder anders ausgedrückt: Die Unzulänglichkeit der Opposition ist immer noch der beste Garant für das Fortbestehen dieser Koalition.
Als Partei, deren Spitzenpersonal keinen überzeugenden Führungsanspruch formuliert, taugt die CSV nicht als Herausforderer der Koalition.“
Denn während DP, LSAP und Grüne keine großen Ambitionen zur Politikgestaltung mehr erkennen lassen, fällt es der Opposition sichtlich schwer, daraus Kapital zu schlagen. Vor allem die CSV verheddert sich regelmäßig in inhaltlichen Widersprüchen. Die Partei tut sich immer noch sichtlich schwer mit wirksamer Oppositionspolitik. Die Schwäche der Christsozialen ist denn auch eine der wenigen Konstanten in den Wahlumfragen der vergangenen Monate.

In der aktuellen Verfassung geht von der größten Oppositionspartei jedenfalls keine große Gefahr für die Mehrheitsparteien aus. Das lässt sich an drei Aspekten festmachen. 1. Als eine für Regierungsverantwortung programmierte Volkspartei wird sie offensichtlich nicht mehr gebraucht. 2. Als Partei, deren Spitzenpersonal keinen überzeugenden Führungsanspruch formuliert, taugt sie nicht als Herausforderer der Koalition. 3. Als Partei, die sich selbst seit Jahren in einer multiplen Sinnkrise befindet, kann sie bei den Wählern kaum behaupten, die vielfältige Krisenlage des Landes besser zu managen als die amtierende Regierung.
Bei den übrigen oppositionellen Kräften ist die Diagnose dagegen schwieriger. Nur so viel scheint absehbar: ADR, Déi Lénk und Piraten werden wohl im kommenden Jahr verstärkt im gleichen Becken der Protestwähler fischen.
Die ADR profiliert sich dabei mehr denn je als rechtspopulistische Alternative zu den vier größeren Parteien. Die Piraten sind ideologisch flexibler, schiffen aber ähnlich wie ihr früherer Kooperationspartner ADR zunehmend in demagogischen Gewässern. Déi Lénk tun sich dagegen zumindest in der medialen Öffentlichkeit schwer, sich von der weitaus effektvoller agierenden Konkurrenz der Kleinparteien abzuheben. Inwiefern die neu gegründete Partei „Fokus“ bei den Wahlen eine wesentliche Rolle spielen kann, ist zudem noch völlig offen.
Die politischen Vorzüge der Unsicherheit
Sicher ist aus heutiger Sicht nur, dass nichts sicher ist. Laut dem politischen Trend kann sich Blau-Rot-Grün zwar gute Chancen auf eine Wiederwahl ausrechnen. Doch erstens handelt es sich dabei nur um Umfragen. Und zweitens bergen die andauernden Krisen der vergangenen zwei Jahre so viel Unwägbarkeiten und schwer abschätzbares Konfliktpotenzial, dass jegliche Voraussagen der Wählerstimmung für das kommende Jahr ziemlich unseriös wären.
Ausgerechnet jene Koalition, die 2013 die CSV-Vorherrschaft brach, kann im kommenden Jahr an die konservativen Reflexe der Luxemburger Bevölkerung appellieren.“
Mit dieser Erkenntnis wäre man aber wieder bei der eingangs zitierten Rede des Premiers. Gerade weil vieles so unsicher scheint, haben die Regierungsparteien einen nicht zu unterschätzenden Wettbewerbsvorteil. DP, LSAP und Déi Gréng können nicht nur auf ihre Bilanz verweisen und ein Jahr vor den Wahlen mit Milliarden an Steuergeldern Politik machen. Sie können und werden vermutlich auch stets daran erinnern, dass die Wähler bei ihnen zumindest wissen, woran sie sind. „Keine Experimente“, lautete der berühmte Wahlslogan des früheren deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Das Luxemburger Pendant vom „séchere Wee“, ein Motto des CSV-Wahlkampfs im Jahre 2004, hat sich auch in das kollektive Wahlkampfgedächtnis eingebrannt.
Ausgerechnet jene fortschrittliche Koalition, die 2013 die CSV-Vorherrschaft brach, kann demnach im kommenden Jahr an die konservativen Reflexe der Luxemburger Bevölkerung appellieren. Die Grundlage dafür wurde jedenfalls schon in Xavier Bettels jüngster Rede gelegt. „Wir leben in einer Zeit, die von Unsicherheit und Ungewissheit geprägt ist. Niemand von uns kann mit Sicherheit sagen, wie die Welt in einem Jahr oder auch nur in einigen Monaten aussehen wird“, hieß es dort. Mit dem durchaus paternalistischen Zusatz: „Was ich jedoch mit Sicherheit sagen kann, ist, dass diese Regierung alles dafür tun wird, dass es den Luxemburgern in Zukunft gut geht.“
Egal, was man von diesen wohlklingenden Worten hält: Ihr Vorzug liegt darin, dass kein Oppositionspolitiker einen ähnlichen Anspruch glaubhaft formulieren kann. Gleichzeitig machte die Rede aber deutlich: Von dieser Regierung sind keine großen Reformen mehr zu erwarten – zumindest bis zu den Wahlen. Die strukturelle Schwäche der Opposition in Krisenzeiten, aber auch deren selbstverschuldete Unzulänglichkeit, könnte Blau-Rot-Grün am Ende zumindest eine Chance ermöglichen: Nämlich, dass sie sich bei den nächsten Wahlen auf ein Neues auf die Suche nach jenem gemeinsamen Projekt machen kann, das dieser Koalition schon bei den letzten Wahlen abhanden gekommen war.




