Wie verändert die Digitalisierung den Journalismus? Ein Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Alessio Cornia über die stetige Kommerzialisierung der Nachrichten, die Macht der Algorithmen und die neue Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Leser. 

Interview: Charlotte Wirth

Wie würden Sie die Situation in den heutigen Nachrichtenredaktionen beschreiben?

Die Medienlandschaft verändert sich rasant, weil mehr und mehr Menschen ihre Nachrichten über mobile Geräte oder soziale Medien beziehen. Die Medienorganisationen arbeiten hart daran, mit dem Wandel Schritt zu halten und Innovationen voranzutreiben, doch sie stehen vor einer Herausforderung. Ihre traditionellen Einnahmequellen schwinden. Das gilt besonders für Zeitungen. Obwohl ihre Leserschaft sich zusehends online informiert, machen sie ihren Umsatz weiterhin mit Printausgaben und Werbeanzeigen.

Für ein Rechercheprojekt des „Reuters Institute for the Study of Journalism“ haben wir 2016 insgesamt 24 Nachrichtenorganisationen in sechs EU-Ländern beobachtet. Der Großteil von ihnen bezieht 80 bis 90 Prozent der Einnahmen aus dem Printbetrieb. Obwohl die digitale Wirtschaft insgesamt eine immer größere Rolle spielt, reichen die digitalen Einkünfte meistens nicht aus, um die Verluste aufzufangen. Das Monopol auf digitale Werbung haben überdem Tech-Giganten wie Facebook und Google.

Wie reagieren Medienorganisationen auf diesen Wandel?

Die Medienschaffenden sind sich natürlich über die grundlegenden Veränderungen ihres Geschäfts im Klaren. Sie müssen sich an ein Umfeld anpassen, in dem digitale Inhalte, mobile Geräte und soziale Medien immer mehr an Einfluss gewinnen. Die Organisationen investieren viel Geld in neue digitale Initiativen. Sie versuchen neue Zielgruppen zu erreichen und alternative Einkommensquellen zu finden.

Etablierte Normen, wie die Trennung zwischen den redaktionellen und kommerziellen Aktivitäten sind heute nicht mehr gültig.“

In Frankreich zum Beispiel hat die Tageszeitung „Le Monde“ ein neues Redaktionsteam zusammengestellt, welches täglich Inhalte für „Snapchat Discover“ produziert. Sie erhoffen sich damit, vor allem jüngere Leser zu erreichen. In Großbritannien investieren die „Daily Mail“ und der „Daily Telegraph“ sehr stark in Markeninhalte, also branded content.

Viele Medienorganisationen versuchen auch ihre Aktivitäten zu diversifizieren. Sie entwickeln Reisedienste, Dating-Apps und Unternehmensdienstleistungen wie Business-to-Business-Dienste. Sie sind sehr aktiv, um mit neuen Geschäftsmodellen zu experimentieren.

Verlieren die Medien nicht ihre Autonomie, wenn sie kommerzielle Dienste anbieten und enger mit Unternehmen zusammenarbeiten?

Es gibt natürlich Spannungen. Auf der einen Seite müssen die Medienorganisationen ihre redaktionelle Arbeit finanzieren können. Nur so können sie professionelle Nachrichteninhalte produzieren und ihre Journalisten bezahlen. Auf der anderen Seite müssen sie verhindern, dass auf den Redaktionen ein kommerzieller Druck lastet. Nur so können sie unabhängigen Journalismus gewährleisten.

Bisher gab es eine komplette Trennung zwischen Nachrichtenredaktionen und Marketing-Teams. Jetzt aber verschwindet diese Mauer. Unsere Recherchen haben ergeben, dass es eine immer größere Integration der Abteilungen gibt. Neue digitale Produkte müssen sich in erster Linie finanziell rentieren. Demnach spielen unternehmerische und finanzielle Überlegungen eine immer wichtigere Rolle bei der Ausarbeitung von neuen redaktionellen Konzepten.

Immer mehr Spieler kämpfen dann um die begrenzte Anzahl an Lesern, die zu zahlen bereit sind.“

Diese Entwicklungen haben einen großen Einfluss auf den Alltag in den Nachrichtenredaktionen und die Arbeit der Journalisten. Etablierte Normen, wie die Trennung zwischen den redaktionellen und kommerziellen Aktivitäten, sind heute nicht mehr gültig. Das sorgt für Spannungen, denn viele Journalisten halten an den alten Normen fest. Für sie stellt dieses unternehmerische Kalkül eine Gefahr für die redaktionelle Unabhängigkeit dar. Diejenigen aber, die sich für eine vermehrte Integration von Redaktion und Marketing entscheiden, glauben nicht, dass dieser Prozess zwingend ihre Unabhängigkeit gefährdet. Wirtschaftlich gesehen versuchen sie ja eben ihre Autonomie zu bewahren.

Wie verändert sich die Rolle der Journalisten?

Journalisten werden zu Abo-Verkäufern – besonders in jenen Nachrichtenredaktionen, die sich sehr stark auf kostenpflichtige Inhalte konzentrieren. An sie werden neue Erwartungen gestellt. In Finnland haben wir zum Beispiel beobachtet, dass das Management die Journalisten auffordert, sehr eng mit den Marketing-Abteilungen zusammenzuarbeiten, um Inhalte zu produzieren, mit denen neue Abonnenten auf den Sozialen Medien angeworben werden. Nachrichten sind kostenpflichtige Inhalte. Die Konsumenten entscheiden was gut ist, und was nicht. Das Image des Journalisten als isolierter Schreiberling ist nicht mehr zeitgemäß. Journalisten müssen kommerziell denken und sich nach den Bedürfnissen der gesamten Nachrichtenorganisation richten.

Alessio Cornia forscht am „Reuters Institute for the Study of Journalism“ der Universität Oxford sowie an der Dublin City University. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört das „Digital News Project“, das sich mit der Entwicklung der Geschäftsmodelle von privaten Medienunternehmen in Europa beschäftigt.

Wie steht es um die Beziehung zwischen Nachrichtenorganisationen und sozialen Medien?

Es ist eine sehr schwierige Beziehung. Auf der einen Seite arbeiten die Plattformen mit Herausgebern zusammen und bieten ihnen zusätzliche Möglichkeiten, um ihre Inhalte zu vermarkten. Mit ihrer Hilfe können die Medienorganisationen neue Zielgruppen erschließen und potentielle Kunden gewinnen, die sie über ihre eigenen Kanäle nicht erreichen würden. Dadurch werden die sozialen Medien aber auch zum Mittelsmann zwischen Herausgebern und deren Kunden. Die Plattformen können die Spielregeln jederzeit ändern – sie haben die Oberhand.

Veränderungen in den Algorithmen führen dazu, dass die Medienorganisationen ihre Inhalte anpassen müssen.“

Das kann zu Problemen führen, zum Beispiel als Facebook Anfang dieses Jahres seinen Algorithmus geändert hat: Auf einmal wurden die Seiten von beliebten Medienorganisationen viel weniger oft besucht. Auf der anderen Seite sind Herausgeber und soziale Medienplattformen Konkurrenten. Sie konkurieren um die Aufmerksamkeit der Menschen, aber auch um Inserenten und um die Investitionen der Werbeindustrie.

Welchen Einfluss hat die Art des Medienkonsums auf den Inhalt?

Natürlich verändert die Art und Weise wie Nachrichten konsumiert werden deren Inhalt, und das auf vielfältige Weise. Zum Beispiel spielen Algorithmen eine große Rolle. Herausgeber bevorzugen Inhalte, die bei Algorithmen besser abschneiden. Veränderungen in den Algorithmen führen dazu, dass die Medienorganisationen ihre Inhalte anpassen müssen. Wenn Facebook-Algorithmen zum Beispiel auf einmal Videos bevorzugen, dann produzieren Zeitungen mehr Videos, um die Reichweite ihrer Inhalte zu steigern.

Nachrichtenorganisationen setzen auch vermehrt auf Zuschauer-Monitoring. Sie beobachten, welche Inhalte am beliebtesten sind. Das beeinflusst wiederum zukünftige Inhalte. Zum Beispiel richten sich Format und Themenwahl nach den Vorlieben der Nutzer.

Könnten Paywalls eine Lösung für den Konkurrenzkampf mit den sozialen Medien sein?

Generell könnten Paywalls für digitale Inhalte ein Weg nach vorn sein. In einer rezenten Studie haben wir herausgefunden, dass zwei Drittel der größten Zeitungen in sechs EU-Ländern bereits 2017 eine Paywall hatten. Bei den meisten gab es einen Mix aus Inhalten, die frei zugänglich sind und solchen, für die die Nutzer zahlen müssen.

Doch wenn mehr und mehr Nachrichtenorganisationen Paywalls anbieten, wird die Konkurrenz immer größer. Immer mehr Spieler kämpfen dann um die begrenzte Anzahl an Lesern, die zu zahlen bereit sind. Die Menschen zahlen aber nur dann für die Inhalte, wenn die Redaktionen einen Mehrwert bieten – etwas, was andere Redaktionen nicht liefern können. Im anderen Fall finden sie die gleichen Inhalte woanders umsonst. Nicht jedes Medium kann sich das leisten.